Samstag, 18. Januar 2014

Zur Ostsee und zurück nach Hamburg

Alleine sitze ich im Zug nach Hamburg. Geplant hatte ich ein Berlin-Wochenende, doch die Gelegenheit auf die 300 Kilometer führte zu einer kleinen Planänderung. Morgen am 1. Mai werde ich von Hamburg-Norderstedt aus den Brevet zur Ostsee fahren, und am Tag darauf geht es für das verlängerte Wochenende nach Berlin. Vom Dammtor nehme ich die S-Bahn nach Norderstedt, rolle zum Hotel und gehe gleich zu Bett.

Mein Wecker geht um sechs Uhr, das Rad steht bereit; ich mache mich fertig, gehe frühstücken und fahre rüber zum Startort. Gleißendes Licht verspricht einen kalten klaren Sonnentag. Der Start befindet sich auf dem Firmenparkplatz vom Pharmakonzern Johnson & Johnson. Dort treffen sich an diesem Mittwoch eine Handvoll Randonneure zu einer Ausfahrt an die Ostsee. Neben einigen Rennrädern sind auch ein Liegerad und ein Velomobil zu sehen. Um 8 Uhr geht es los.

Bis auf die Liegeradfahrer bleiben zunächst alle im Pulk beieinander. So geht es in dynamischer Zweierreihe raus auf's Land: vorne sind immer zwei im Wind, die sich dann jeweils nach links und rechts zurückfallen lassen und die Führung weitergeben. Das Tempo ist hoch, und langsam verkleinert sich die Gruppe. Die Ortschaften, die wir durchqueren, werden kleiner, die Strecken dazwischen länger, die Straßen frei von Autos.

So rasen wir der ersten Kontrollstelle entgegen. Nach dem Stempeln gibt es eine Steilvorlage: ein Autofahrer fragt mich, wo wir denn heute hinfahren - "zur Ostsee und zurück nach Hamburg!" Die anderen haben schon wieder aufgesattelt und sind losgesprengt. Ich hinterher und finde mich mit vier Randonneuren zu einer Gruppe zusammen, mit der ich heute abend gemeinsam wieder in Hamburg eintreffen werde.

Mit etwas gemütlicherer Geschwindigkeit rollen wir der Ostsee entgegen: An Kiel vorbei kommt sie erstmals in Sicht. Die Route führt bei Laboe kurz runter zum Strand, dann ein paar Meter auf einem Sandweg entlang, und schon geht es wieder ins Inland durch die Holsteinische Seenlandschaft. Auf dem Weg verlieren wir bereits einen unserer Mitstreiter.

Dann kommt mein Tiefpunkt des Brevets, erstaunlicherweise bei der gleichen Distanz wie schon im Bergischen Land um Kilometer 150. Obwohl ich gut gefrühstückt und mich mit Riegeln und einem Salamibrot versorgt habe, fühlen sich meine Beine vollkommen kraftlos an. Ohne langes zögern signalisiere ich den verbliebenen drei Randonneuren, dass ich mich ausklinke, und wehre deren Versprechen bezüglich der nahenden Mittagspause ab. Es ist schon nach eins, und dort drüben winkt ein Biergarten. Immerhin schon die Hälfte geschafft.

Kaum stehe ich vor dem Biergarten, kommt der Kollege vorbeigerollt, der sich vorher ausgeklinkt hat. "Häng' Dich ran" ruft er, und schon bin ich wieder auf dem Rad. Meine Hoffnung auf angepasste Geschwindigkeit erfüllt sich nicht vollständig, und ich habe Mühe in seinem Windschatten zu bleiben. Auch kommt an diesem Stück der einzige leichte Gegenwind auf, dem ich an diesem Tag begegne. Noch 15 Kilometer, dann sind wir an der nächsten Kontrolle in Hohwacht, dort gibt es Mittagessen.

Irgendwie gehen die Kilometer und Minuten vorbei, bis wir das zweite Mal die Ostsee sehen. Doch dafür habe ich gerade keine Augen - ich sehe nur die Fischbude, auf die wir schnurstracks zusteuern. Dort sitzen auch die anderen drei. Ich atme zwei Matjesbrötchen und zwei Cola weg, und nach einer Sitzpause fühle ich mich wieder großartig! Das ist also das Tief beim Brevet, dessen Umgang man erlernen muss. Vielleicht ist meine persönliche Lösung gutes Essen? Noch ist eigentlich keine Matjeszeit, aber in meiner Erinnerung wird eine delikate Mahlzeit zurückbleiben. Den Stempel für die Kontrollkarte bekommen wir übrigens direkt an der Fischbude - die kennen das schon.

Wieder vereint, satteln wir die Räder. Und ich presche vorne weg und ziehe alle durch die hügelig anmutende Holsteinische Schweiz. Unglaublich, wie gut ich wiederhergestellt bin. Zum Nachmittag gibt es die dritte Portion Ostsee, diesmal beim Timmendorfer Strand. Die erfahrenen Randonneure wissen, bei welcher Tankstelle man schnell einen Stempel, einen Kaffee oder Kakao und einen Schokoriegel bekommt. Nun geht es also zurück nach Hamburg. Zweihundert Kilometer habe ich geschafft, so viel wie vor drei Wochen im Bergischen Land. Ich bemerke, dass nur noch hundert Kilometer vor mir liegen.

Beim zweiten Mal schon Routine
Auf dieser Strecke erahne ich, was einen Brevet ausmacht. Ich komme ich einen meditativen Tritt, in dem Zeit und Distanz unwichtig werden. Den Blick auf den Tacho sollte ich mir abgewöhnen, und auch das ständige prüfen der Uhrzeit bringt mich nicht voran. Trotz der heterogenen Kräfteverteilung in unserem kleinen Peloton herrscht eine richtig freundliche Stimmung vor, von der alle zehren können. Auch das zweimalige Reifenflicken kann uns nicht aufhalten. Auf einer Anhöhe sehen wir links von uns Lübeck im Abendlicht.

Diese meditative Stimmung verfliegt jedoch plötzlich, als wir uns den Toren Hamburgs nähern. Die zwei schnellen Fahrer bekommen wohl Heimweh; jedenfalls treten sie noch mal so richtig rein. So wird auch mal eben die Nebenstraße durch die Hauptstraße getauscht, und so rasen wir zurück zum Ausgangspunkt. Um viertel vor neun holen wir unsere Stempel beim Nachtpförtner ab. Im Betriebskasino bekomme ich eine Medaille, einen Teller Pasta und ein Hefeweizen. Ein tolles Gefühl macht sich breit, zu dem sich auch schnell die Müdigkeit gesellt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen