Alleine
sitze ich im Zug nach Hamburg. Geplant hatte ich ein Berlin-Wochenende,
doch die Gelegenheit auf die 300 Kilometer führte zu einer kleinen
Planänderung. Morgen am 1. Mai werde ich von Hamburg-Norderstedt aus den Brevet zur Ostsee fahren, und am Tag darauf geht es für das verlängerte Wochenende nach Berlin. Vom Dammtor nehme ich die S-Bahn
nach Norderstedt, rolle zum Hotel und gehe gleich zu Bett.
Mein
Wecker geht um sechs Uhr, das Rad steht bereit; ich mache mich fertig,
gehe frühstücken und fahre rüber zum Startort. Gleißendes
Licht verspricht einen kalten klaren Sonnentag. Der Start befindet
sich auf dem Firmenparkplatz vom Pharmakonzern Johnson & Johnson.
Dort treffen sich an diesem Mittwoch eine Handvoll Randonneure zu einer
Ausfahrt an die Ostsee. Neben einigen Rennrädern sind auch ein Liegerad
und ein Velomobil zu sehen. Um 8 Uhr geht es los.
Bis
auf die Liegeradfahrer bleiben zunächst alle im Pulk
beieinander. So geht es in dynamischer Zweierreihe raus auf's Land:
vorne sind immer zwei im Wind, die sich dann jeweils nach links und
rechts zurückfallen lassen und die Führung weitergeben. Das Tempo ist
hoch, und langsam verkleinert sich die Gruppe. Die Ortschaften, die wir
durchqueren, werden kleiner, die Strecken dazwischen länger, die Straßen
frei von Autos.
So rasen wir der ersten Kontrollstelle entgegen. Nach dem Stempeln gibt es eine
Steilvorlage: ein Autofahrer fragt mich, wo wir denn heute hinfahren -
"zur Ostsee und zurück nach Hamburg!" Die anderen haben schon wieder
aufgesattelt und sind losgesprengt. Ich hinterher und finde mich mit
vier Randonneuren zu einer Gruppe zusammen, mit der ich heute abend
gemeinsam wieder in Hamburg eintreffen werde.
Mit etwas gemütlicherer Geschwindigkeit rollen wir der Ostsee entgegen: An
Kiel vorbei kommt sie erstmals in Sicht. Die Route führt bei Laboe kurz
runter zum Strand, dann ein paar Meter auf einem Sandweg entlang, und
schon geht es wieder ins Inland durch die Holsteinische Seenlandschaft.
Auf dem Weg verlieren wir bereits einen unserer Mitstreiter.
Dann
kommt mein Tiefpunkt des Brevets, erstaunlicherweise bei der gleichen
Distanz wie schon im Bergischen Land um Kilometer 150. Obwohl ich gut
gefrühstückt und mich mit Riegeln und einem Salamibrot versorgt habe,
fühlen sich meine Beine vollkommen kraftlos an. Ohne langes zögern
signalisiere ich den verbliebenen drei Randonneuren, dass ich mich
ausklinke, und wehre deren Versprechen bezüglich der nahenden Mittagspause
ab. Es ist schon nach eins, und dort drüben winkt ein
Biergarten. Immerhin schon die Hälfte geschafft.
Kaum
stehe ich vor dem Biergarten, kommt der Kollege vorbeigerollt, der sich vorher ausgeklinkt
hat. "Häng' Dich ran" ruft er, und schon bin ich wieder auf dem Rad.
Meine Hoffnung auf angepasste Geschwindigkeit erfüllt sich nicht
vollständig, und ich habe Mühe in seinem Windschatten zu bleiben. Auch
kommt an diesem Stück der einzige leichte Gegenwind auf, dem ich an
diesem Tag begegne. Noch 15 Kilometer, dann sind wir an der nächsten
Kontrolle in Hohwacht, dort gibt es Mittagessen.
Irgendwie
gehen die Kilometer und Minuten vorbei, bis wir das zweite Mal die Ostsee sehen. Doch
dafür habe ich gerade keine Augen - ich sehe nur die Fischbude, auf die
wir schnurstracks zusteuern. Dort sitzen auch die anderen drei. Ich atme
zwei Matjesbrötchen und zwei Cola weg, und nach einer Sitzpause fühle
ich mich wieder großartig! Das ist also das Tief beim Brevet, dessen
Umgang man erlernen muss. Vielleicht ist meine persönliche Lösung gutes
Essen? Noch ist eigentlich keine Matjeszeit, aber in meiner Erinnerung
wird eine delikate Mahlzeit zurückbleiben. Den Stempel für die
Kontrollkarte bekommen wir übrigens direkt an der Fischbude - die kennen das
schon.
Wieder
vereint, satteln wir die Räder. Und ich presche vorne weg und ziehe
alle durch die hügelig anmutende Holsteinische Schweiz. Unglaublich, wie
gut ich wiederhergestellt bin. Zum Nachmittag gibt es die dritte
Portion Ostsee, diesmal beim Timmendorfer Strand. Die erfahrenen
Randonneure wissen, bei welcher Tankstelle man schnell einen Stempel,
einen Kaffee oder Kakao und einen Schokoriegel bekommt. Nun geht es
also zurück nach Hamburg. Zweihundert Kilometer habe ich geschafft, so
viel wie vor drei Wochen im Bergischen Land. Ich bemerke, dass nur noch hundert Kilometer vor mir liegen.
Beim zweiten Mal schon Routine |
Auf dieser Strecke
erahne ich, was einen Brevet ausmacht. Ich komme ich einen meditativen
Tritt, in dem Zeit und Distanz unwichtig werden. Den Blick auf den Tacho
sollte ich mir abgewöhnen, und auch das ständige prüfen der Uhrzeit bringt
mich nicht voran. Trotz der heterogenen Kräfteverteilung in unserem
kleinen Peloton herrscht eine richtig freundliche Stimmung vor, von der
alle zehren können. Auch das zweimalige Reifenflicken kann uns nicht aufhalten. Auf einer Anhöhe sehen wir links von uns Lübeck im
Abendlicht.
Diese
meditative Stimmung verfliegt jedoch plötzlich, als wir uns den Toren Hamburgs
nähern. Die zwei schnellen Fahrer bekommen wohl Heimweh; jedenfalls
treten sie noch mal so richtig rein. So wird auch mal eben die
Nebenstraße durch die Hauptstraße getauscht, und so rasen wir zurück zum
Ausgangspunkt. Um viertel vor neun holen wir unsere Stempel beim
Nachtpförtner ab. Im Betriebskasino bekomme ich eine Medaille, einen
Teller Pasta und ein Hefeweizen. Ein tolles Gefühl macht sich breit, zu
dem sich auch schnell die Müdigkeit gesellt.
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