Montag, 16. Juni 2014

Der Tod in Vesoul

Auf der D9 nach Vesoul
Die D9 hat mich in den Wahnsinn getrieben. Es war nur ein kurzes Stück Strecke, auf welchem sich die breite Straße schnurgerade einige Hügel hinaufschiebt. Von jedem der Hügel konnte man sehen, wie sie weitere Hügel überspannt. Die Abfahrten waren kürzer als die Anstiege, also ging es tendenziell bergauf. Die Hügelkuppen waren hoch genug, um plötzlich Autos auszuspucken, die auf und ab über die Landstraße rasten.

Autos sind zahlreich unterwegs an diesem Pfingstsonntag, die Radfahrer gekonnt und knapp überholen. Unterwegs zu Verwandten, zum Mittagessen und zum See. Überhaupt ist es zum Radfahren eigentlich viel zu heiß. Bei Saharahitze im Juni steigen nur Verrückte aufs Rad. In der Mittagshitze musste ich auf den trostlosen Boulevard des Alliés einbiegen, an der Stadt vorbei Richtung Bahnhof fahren. Mit dem Wissen, dass dieser Abstecher lediglich dem Stempel am Bahnhof dient, um den gleichen Weg zurück zu fahren.

Nun sitze ich vor dem Bahnhof von Vesoul. Die Hitze flimmert über den Bahnhofsvorplatz, während ich im Schatten eines kleinen Bistros sitze und feststelle, dass ich weder meine Pizza essen noch Limonade trinken kann. Sonnenhitze, weder Energie- noch Flüssigkeitsaufnahme - das Brevet ist wohl gelaufen.

Dabei trage ich unglaubliche Erlebnisse und hinreißende Bilder in meinem Kopf mit mir herum, die ich erst in den letzten dreißig Stunden gesammelt habe. Das Jura liegt hinter mir, ich bin den Hauptkamm von Nordost nach Südwest entlang gefahren. Dabei habe ich lange Passanstiege bezwungen, die sich allesamt sehr flüssig fahren ließen. Immer wieder bin ich auf den Doubs gestoßen, diesen wundersamen, wie ein See da liegenden Fluss, der immer wieder versickert und woanders wieder auftaucht. Entgegen meiner Vorstellung lag er in wabernder Lufttemperatur von 35 Grad da, konnte mir dann aber doch ein erfrischendes Bad bieten.

Nach einem kapitalen Anstieg über Maîche nach Fournet-Blancheroche schossen wir in einer freudentränentreibenden Abfahrt runter zur Schlucht des Doubs, lediglich um diesen auf einer Stahlträgerbrücke zu überqueren und auf der anderen Seite wieder in den Anstieg zu gehen. Auf der Brücke habe ich nicht nur eine Landesgrenze überschritten. Der Blick von der Brücke in die Schlucht hinein war wie ins Innerste einer Seele. Zwischen den Rausch der Abfahrt und das klare Wissen um den Gegenanstieg, gepaart mit der scheinbaren Sinnlosigkeit dieser Schluchtquerung, schob sich dieser wunderbare Anblick wie eine Fotografie auf einem Diaprojektor.

Beim Anstieg nach La Chaux-de-Fonds zogen Wolken auf, was die Hitze nur in eine Schwüle verwandelte. Beim Eintauchen in den Boulevard von Chaux-de-Fonds schmerzte Philip, Heikki und mir der Rücken, so dass wir am Bahnhof eine Pause einlegten. Während den Minuten der Regeneration stolperte der eine oder andere Randonneur hinein, und nicht jeder konnte der Verlockung der Eisenbahn auf tausend Meter Höhe widerstehen. Auch unser Gefährte Bernhard hatte im Anstieg schon aufgegeben.

Scheideweg am Bahnhof La Chaux-de-Fonds
Schließlich machten wir uns auf den Weg zum Dach der Tour, dem Col Vue des Alpes, der im Sonnenuntergang tatsächlich die Alpen erahnen ließ. Weiter rollten wir dem Jura-Hauptkamm entlang der Nacht und Champagnole entgegen. Nach dem südwestlichen Wendepunkt ließ ich meine Mitstreiter ziehen, um mich aufs Ohr zu legen. In einem kleinen Park in Salins-les-Bains streckte ich mich auf dem Gras aus, um mich eine Stunde später vom einsetzenden Morgengrauen wecken zu lassen. Taumelnd aber entspannt setzte ich mich wieder in den Sattel, um  mich aus dem Tal herauszuschrauben.

An diesem Sonntagmorgen ließ die Sonne nicht lange auf sich warten und begleitete mich auf meinen 150 Solokilometern bis nach Vesoul. Erstaunlicherweise hat der Sonnenblocker meine Haut effektiv geschützt, und wird es auch noch bis zum Ende des Brevets tun. Wenn auch meine Haut davon gekommen ist, so hat die Sonne meinem Organismus umso mehr zugesetzt.

Und da sitze ich nun in Vesoul und kann nicht weiter. Ich bin hier im vollen Bewußtsein meiner Kräfte und doch unfähig Rad zu fahren. Die Frustration über die Widersprüchlichkeit der Situation treibt mir wütende Tränen in die Augen.

Gare de Vesoul (Quelle)
Nach einer Stunde setzen sich zwei Randonneure an meinen Tisch, es sind Stefan und Reinhold. Ich muss kurz eingeschlafen sein, nun aber regen sich meine Geister wieder. Eine Flasche Wasser kann ich nun trinken, kann an meiner Pizza nagen, und ein Eis verschlinge ich sogleich darauf. Die beiden fragen, ob ich mitfahre, und schon geht es weiter.

Was folgt, ist ein Klacks. Nur noch 150 Kilometer, und dazu formidablen Windschatten. Ein wenig verfliegt meine Leichtigkeit in den Ausläufern der Vogesen, gleichzeitig ist mir aber klar, dass ich heute in Freiburg ankommen werde. Und meinen ersten Brevet von 600 Kilometern bestehen kann.

In der Rheinebene sammeln wir Philip ein, mit dem ich den Samstag zusammen gefahren bin. Zu viert überqueren wir wieder bei Fessenheim den Rhein und sind nach einem Kurzurlaub zurück in Deutschland. Unter euphorischem Gequassel rollen wir auf einem Radweg dahin und bemerken, dass wir von der Strecke abgekommen sind. 600 Kilometer autarke Navigation ohne einen einzigen Fehler durch die Schweiz und Frankreich, und nun scheitern wir auf den letzten Metern.

Philip verabschiedet sich mit der Gewissheit des Ortskundigen nach rechts. Ich vertraue Stefan bei der Navigation und werde stutzig, als wir erst an Bad Krozingen vorbei und dann nach Staufen fahren. Als Stefan "rechts" sagt, ziehe ich die Notbremse. Wir sind auf dem Track, welchem wir am Samstagmorgen aus Freiburg heraus gefolgt sind, und nun im Begriff die Strecke erneut zu fahren. Es hilft nichts, wir müssen nun nach links, noch einmal über den Berg bei Sölden zurück nach Freiburg. Diese letzten Höhenmeter können mir nichts mehr anhaben, im Wiegetritt fliege ich über sie hinweg.

Mit der zurückkehrenden Dunkelheit kommt auch endlich die Müdigkeit. Trotz nur einer Stunde Dämmerschlaf war ich den ganzen Tag über wach und konzentriert. Am Augustiner geben wir unsere Stempelkarten ab und verabschieden uns. Claudia muss noch mein aufgeregtes Geplapper ertragen und mich zu meinem Teller Spargel zwingen. Auch im Tiefschlaf fahre ich noch weiter, meine Beine versuchen zu treten und mein Puls findet erst am nächsten Tag seine Ruhe.

Fast 39 Stunden war ich unterwegs, davon 30 auf dem Rad.