Donnerstag, 31. Dezember 2015

Rück- und Vorschau

Das sogleich endende Jahr 2015 kann ich ohne zu übertreiben als radlerischen Höhepunkt darstellen. Aber auch unter anderen Gesichtspunkten blicke ich gerne auf die vergangenen 12 Monate zurück.

Der Winter begann mit meiner siebenmonatigen Elternzeit, deren Beginn wir zuerst in Kalifornien und dann auf vier Inseln von Hawai'i feierten. Was für eine wunderbare Zeit für unsere junge Familie, und auch die persönlichen Herausforderungen kamen nicht zu kurz: Auf der Insel Maui ritt ich auf den Vulkan des Haleakala, und auf Big Island bewältigte ich mit dem Mauna Loa meinen ersten 4.000er.


Zurück in Deutschland, setzte ich mich, stark motiviert durch Carlo, im nachlassenden Winter auf mein Rad und begann an meiner Ausdauer zu arbeiten. Die Brevetsaison begann mit dem Auftakt im Saarland, gefolgt von bergigen Ausfahrten in den Schweizer Jura, die Schwäbische Alb, und den Französischen Jura. Im Juli bestand meine Odenwald-Kreation, Mit Siegfried über den Limes, mit vier Randonneurskollegen ihre Feuertaufe.


Nach diesen Prüfungen standen alle Signale auf Paris-Brest-Paris, auf welches ich mich auch dank der Elternzeit sehr gut vorbereiten konnte.

Selbst danach ließ die Lust am Radfahren nicht mehr nach. Bevor ich im Oktober meine neue Tätigkeit an der Hochschule antrat, konnten Claudia und ich dank Kinderbetreuung die eine oder andere gemeinsame Radtour drehen.



Eigentlich sollte mein neues Fahrrad für das große Event im August fertig werden. Nach mehr oder weniger geduldiger Wartezeit konnte ich es im Oktober in Empfang nehmen. Daniel, ich danke Dir für Dein Können und Deine Geduld.

Foto: Daniel Pleikies
Im Dezember wollte ich ruhen, aber das schöne Wetter zog mich wieder auf mein Rad.

Nun stehen die Planungen für das nächste Jahr an. Ich werde den Bölchen-II-300er in Freiburg fahren, danach den neuen 400er im Saarland, und dann den 600 und 1.000er in Schaffhausen. Wo soll ich nur den 200er fahren? Mittlerweile gibt es doch eine komfortable Auswahl. Was sind eure Pläne, und welche Ausfahrt unternehen wir gemeinsam?

Dienstag, 24. November 2015

Das Fest des Radfahrens

So vielen Erzählungen hatte ich gelauscht, Erfahrungsberichte gelesen und Ratschläge gehört. Und doch konnte ich mir nicht vorstellen, wie es sein würde. Die beiden wesentlichen Hinweise waren diese: Zuerst die unbeschreibliche Atmosphäre auf der Straße. Tausende Radfahrer aller Nationen kommen zusammen, um gemeinsam von Paris nach Brest und zurück zu fahren. Sie zelebrieren das Radfahren, indem sie es vier Tage lang exzessiv und exklusiv betreiben. Sie werden darüber hinaus von den Anwohnern entlang der Strecke in ihrem Vorhaben ermuntert und liebevoll umsorgt. Kaffee, Kuchen und Gegrilltes zu jeder Uhrzeit seien keine Ausnahmen. Diese Stimmung treibt die Radfahrer wiederum an, so dass ihnen die 1.200 Kilometer kürzer erscheinen mögen. Das wollte ich nicht glauben – solch ein Volksfest soll mich beflügeln?

Zweitens beschrieb so mancher erfahrene Randonneur die Strecke als landschaftlich karg, abwechslungsarm, ja geradezu langweilig, zumindest jedoch monoton. Keine visuellen Höhepunkte, wie ich sie aus den Mittelgebirgen des Schwarzwalds, der Vogesen und des Jura kenne. Nur Felder und Weiden. Hügel reiht sich an Hügel, als Belohnung eines Anstiegs sieht man schon den nächsten. Da ich zwar mit Pässen kein Problem habe, aber Hügel und Wellen ausgesprochen entmutigend finde, konnte ich mir dies sehr gut vorstellen und war geneigt es zu glauben.

Ganz nach meiner Art habe versuche ich, unvoreingenommen an die Sache heranzugehen. Ohne Aufregung zerlege ich mein Rad am Mannheimer Bahnhof und packe es in den Schnellzug nach Paris. Dort am Gare de l'Est wieder zusammengebaut, fahre ich am Arc de Triomphe vorbei durch den Bois de Boulogne und den Park von Saint Cloud nach Versailles zu meinem Hotel. Weiter zum Start am Vélodrome National, wo mir dann zu dämmern beginnt, was für eine Dimension Paris-Brest-Paris annimmt. Hunderte, wenn nicht Tausende Radfahrer sind hier versammelt, um sich und ihre Fahrräder zu registrieren. Jeder Fleck des Vorplatzes und der Wiese ist von abgelegten Rädern eingenommen. Nach dem Treffen der deutschen Randonneure – über 500 an der Zahl – und einem Abendessen mit britischen Randonneuren bekomme ich für eine Nacht noch einmal reichlich Schlaf.

Das Motto des Sonntags ist Zeit totschlagen. Um 16 Uhr gehen die ersten auf die Strecke, bis zum Start meiner Gruppe um 18 Uhr ist nicht viel zu tun. Die vernehmbare Vorfreude all der Randonneure steigt im Tagesverlauf immer mehr an, und im Startbereich wird sie mit dröhnender Musik und Kommentatoren weiter angeheizt. Das ist nun gar nicht mein Fall, und so freue ich mich vor Allem darauf, endlich los zu rollen und der Aufregung zu entkommen. Der Start einer großen Tour ist auch eine Erleichterung: die Aufregung ist vorbei und ich darf endlich Rad fahren. Ich starte gemeinsam mit Olaf, und wir bleiben durch das Startgetümmel beisammen. Wir rollen am Ende der Gruppe über die Startlinie und können die abgesperrten ersten Kilometer gleichmäßig fahren. Es gibt lediglich geringe Positionsanpassungen, recht bald scheint mir das Feld aber sortiert. Da überholt uns schon ein Schwall Randonneure aus der 15 Minuten später gestarteten Gruppe.

Über eine von gigantischen Bäumen geschmückte Allee entkommen wir dem Großraum Paris und sind nun auf den viel gerühmten, endlosen Landstraßen unterwegs. An Autoverkehr ist bei der Masse von Radfahrern gar nicht zu denken. Die Navigation muss kaum beachtet werden, die Schlange kann nicht irren. Oder doch? Am Ortseingang von Norgent-le-Roi zeigt der Pfeil mit der Aufschrift "Brest" nach rechts, wir biegen mit einem Schwall von Radlern ab. Hinter uns ist auf einmal niemand mehr: wir drehen um und merken, dass schon die Navigation kein Selbstläufer ist. Das Pedalieren hingegen läuft noch ganz von alleine. Und in was für einem Rausch, ich spüre kaum wie viel Kraft ich in die Kurbel bringe. Es muss ganz schön viel sein, denn bis zur ersten Kontrollstelle Villaines-la-Juhel bin ich in Rekordgeschwindigkeit unterwegs. Das ist wohl der Beat von PBP.

Die Taktung an den Kontrollen stellt sich ebenso ein. Zunächst gilt es, einen Parkplatz für das Rad zu finden. Es sind zwar massig Stellplätze vorhanden, aber auch mindestens so viele Fahrräder schon dort. Weiter geht es in Richtung Stempel, auf dem Weg dorthin läuft man über eine Matte zur elektronischen Erfassung. Den ersehnten Stempel bekommt man dann von ehrenamtlichen Helfern ins Heft gedrückt, immer mit freundlicher Begrüßung und Wünschen für den weiteren Weg. Zu behaupten, der altmodische Teil der Prozedur sei überflüssig, käme der Ketzerei gleich. Dann kümmert man sich um neues Wasser für die Trinkflaschen und etwas zum Essen - entweder ein schnelles Baguette, Obst, oder Galette, oder man entscheidet sich für eine ausgiebige Mahlzeit am Buffet. Schweinebraten zum Frühstück oder Pfannkuchen um Mitternacht stellen keine unmögliche Konstellation dar.

Nach Villaines verliere ich Olaf. Er meint, ich sei schneller und solle fahren. Ich sehe das anders, aber als er etwas verliert und anhält, trennen sich unsere Wege nun doch. Die Nacht zeigt sich von ihrer dunkelsten und kältesten Seite, und der anfängliche Sprint der Masse beginnt abzuflauen. Irgendwann trennt sich die Dunkelheit in verschiedene Schattierungen, und unter dem einsetzenden Tag zeichnet sich der über Feldern und Straßen liegende Nebel ab. Durch ihn stechen wir gerade hindurch, nehmen jede Unebenheit mit und fahren auf die zweite Kontrolle zu. Am Straßenrand wird schon fröhlich Kaffee und Kuchen ausgegeben; aber was heißt "schon", vielmehr "immer noch" nach der ganzen Nacht, und ein Ende der Gastfreundschaft ist noch nicht absehbar. Ich halte an und lasse mir Kaffee reichen, das Angebot in der Scheune zu schlafen lehne ich jedoch ab. Vielleicht auf dem Rückweg!

Im Strom der Randonneure rolle ich nach Fougères hinab. Mit der Festung ist auch die Bretagne erreicht, die es nun zu durchradeln gilt. Beim Frühstück mit drei oder vier Croissants treffe ich Matthias und Jörg auf einen Plausch, aber jeder von uns fährt alleine weiter. Matthias möchte bis zum Abend in Brest sein, Jörg und ich haben weniger ambitionierte Pläne. Habe ich überhaupt einen Plan? Ich möchte einfach fahren; mein Gefühl wird mich dort hin bringen, wozu mein Körper in der Lage ist.

Durch die Bretagne


Höchst beschwingt trete ich in die Pedale auf diesen immer kleiner werdenden Straßen. Das Wetter scheint Ende August schon spätsommerlich, aber die Sonne strahlt mit aller Kraft zwischen den vorüberziehenden Wolken hindurch. Wind ist kaum wahrnehmbar; vermutlich schiebt er leicht von hinten. So erreiche ich nach der durchwachten ersten Nacht völlig mühelos Tinteniac zu einem frühen Mittagessen und mache mich gleich wieder auf den Weg, weiter in Richtung Brest.

So lieblich die Landschaft und das Wetter auch sein mögen, so hart ist doch auch die Strecke selbst, der wir hier wie einer endlosen Schnur folgen. Viele Randonneure kommen wohl hierher in der Annahme, die Strecke sei flach - was für ein fataler Irrtum! Man kann wohl vielmehr behaupten, Paris-Brest-Paris sei nirgends flach, immer reiht sich nur Hügel an Hügel. Die französische Spezialität der Landstraßen ist besonders charakteristisch: Schnurgerade legen sie sich als Band über die Landschaft, ohne sich auch nur im Geringsten um die Topographie zu kümmern. Jede Bodenunebenheit wird mitgenommen, und als Radfahrer handhaben wir es dann ebenso. Immer wieder erklimmen wir kleine Hügel von vielleicht 20 Metern Höhe, um oben schon den nächsten Hügel zu erblicken. Eine psychologische Geduldsprobe, nur nicht die Nerven zu verlieren. Körperlich anstrengend ist es nicht, kein einziger Anstieg erweis sich als steil.

Es ist nahezu unglaublich, was für eine kulturelle und internationale Vielfalt auf Rädern hier anzutreffen ist. Neben vielen Franzosen, Briten und Deutschen natürlich Europäer aller Länder, aber auch weit darüber hinaus. Sehr viele Amerikaner aus Nord und Süd, Australier, Japaner, Taiwanesen und Chinesen kann ich anhand der Rahmenschilder identifizieren. Dass nicht jeder von ihnen mit dem Fahrrad aufgewachsen ist und so mancher die Herausforderung an sich sucht, erscheint mir auch vollkommen klar.

Viele sind wohl auch erstmals in Frankreich oder gar in Europa und müssen diesen Besuch reichhaltig fotografisch dokumentieren. So auch der taiwanesische Fahrer vor mir, der einfach anhält um sein Telefon auf ein Fotomotiv zu richten. Ich bin so perplex, dass ich ungebremst - wenn auch bei seichtem Anstieg - in ihr rein fahre. Wir rappeln uns beide von der Straße auf, uns gegenseitig entschuldigend, auch wenn ich meinen Ärger nicht ganz verbergen kann. Aus dem Augenwinkel sehe ich das zerbrochene Display seines Telefons, und er bemerkt wohl auch meinen platten Vorderreifen. Wir versichern uns gegenseitig unserer körperlichen Unversehrtheit, und er macht sich vom Acker. Ich stehe also am Straßenrand und freue mich über die Hilfe eines Anwohners bei der Reparatur meines Schlangenbisses. Danke dafür!

Nach dieser Erfahrung verstärkt sich natürlich mein Augenmerk und Gespür für das fahrerische Können der Randonneure. Nun, es geht weiter. Der Zwischenfall hat mich kaum tangiert. So manch anderer soll von weitaus geringeren Inzidenzen aus seinem Konzept geworfen und bis zur Aufgabe getrieben worden sein. Ich bin jedoch so fröhlich und dankbar, dass ich hier fahren darf, dass ich mir gar nichts anderes vorstellen kann als endlich wieder auf's Rad zu steigen. In Quedillac lasse ich mein Vorderrad zentrieren und bemerke, welch Aufwand hier getrieben wird: An jeder Kontrollstelle gibt es nicht nur Essen, Trinken und Schlafmöglichkeiten, sondern auch eine Fahrradwerkstatt! Was für ein Luxus.

Auch kulinarisch bin ich in der Bretagne angekommen und esse zwei Galette-Saucis, also Grillwürstchen im Pfannkuchen. Genial. Gestärkt geht es in den Nachmittag und sobald dann nach Loudéac. An dieser Kontrollstelle herrschrt eine besondere Regsamkeit, da hier die ersten Fahrer ankommen, die schon in Brest waren! Bei mir setzt langsam die Müdigkeit ein und reift die Erkenntnis, dass ich nicht bis Brest durchfahren werde. Das ist völlig in Ordnung, ich stehe ja nicht unter Druck, und dort werde ich auch morgen früh nach etwas Schlaf noch ankommen. So steht die Entscheidung, noch 100 Kilometer in den Abend hinein zu fahren und dann gegen Mitternacht einen Schlafplatz zu suchen. Die Straßen werden auf dem nächsten Abschnitt nochmals kleiner und schöner, und stellen einen landschaftlichen Höhepunkt der Strecke dar - ganz unaufgeregt, ohne geographische Extreme, einfach nur lieblich und ruhig, durchzogen von einem Strom von Radfahrern. Eine perfekte Strecke, um zu innerlicher Ruhe zu finden.

So hole ich mir schnell meinen Stempel in der Geheimkontrolle Saint-Nicolas-du-Pélem und komme schließlich nach Carhaix, tief im Herzen der Bretagne gelegen. Die Stadt hat in dieser Nacht vermutlich doppelt so viele Übernachtungen wie üblich zu verzeichnen, jedenfalls stehen die Randonneure vor der Turnhalle Schlange, um einen Ruheplatz zu ergattern. Lohnt sich die Wartezeit? Ganz gleich, ich will schlafen. Nach einer halben Stunde stehe ich halb unter der kalten Dusche und lege mich dann auf "mein" Feldbett. Vier Stunden Schlaf genehmige ich mir, die zuerst komagleich, dann im Dämmerzustand an mir vorbei ziehen. Aufstehen, anziehen, frühstücken, und wieder rolle ich hinaus in die Dunkelheit.

Das dichte Waldgebiet, das völlig im nächtlichen Nebel verborgen liegt, stellt den mystischen Höhepunkt meiner Fahrt dar. Dazu trägt auch die keltische Besiedelung zu vergangenen Zeiten bei. Huelgoat liegt verwunschen da, als ich von der Route ab auf den Marktplatz einrolle und die Bäckerei aufsuche. Um 5 Uhr morgens ist sie verschlossen, aber innen brennt schon Licht, und so gehe ich zum Seiteneingang und kann zwei ofenfrische Croissants erstehen. Mit deren Wärme scheint auch die Helligkeit über dieses magische Stück Land zurück zu kehren, und auf meiner Fahrt zum Roc'h Trevezel, dem höchsten geografischen Punkt der Strecke, lichten sich Nebel und Nacht und geben den Blick auf die umliegende Landschaft frei.

Überall am Straßenrand liegen Radfahrer, teils in goldglänzende Rettungsdecken gehüllt, teils als seien sie bis zum Äußersten gefahren und dann einfach vom Rad gefallen. Seine Kräfte sinnvoll einteilen interpretiere ich anders. Von der Schlafpause erholt radele ich mich warm und kann kraftvoll in den Anstieg des Roc'h Trevezel gehen. Zunächst lichtet sich der tiefe Nebel, auf den ich von oben wie auf ein Meer hinunterblicke. Hier oben herrscht eine ungeahnte Wärme, von der die unten am kalten Straßenrand liegen gebliebenen wohl nicht zu träumen wagen. Ganz kurz stelle ich mir vor, dieses Meer aus Wolken sei der Atlantik.

Für diesen Anblick muss ich noch ein wenig arbeiten; eine lang gezogene Abfahrt und 50 Kilometer liegen dieser Idee noch im Weg. Nach einem Kaffee und Éclairs in Sizun zieht auch dieser Teil vorbei, und eine Anhöhe gibt den Blick auf die Bucht vor Brest frei. Die Abfahrt vollführe ich jauchzend, tauche wieder in den sonnendurchfluteten Morgennebel ein, und fahre über die verhüllte Brücke in die Stadt ein. Auch die letzten Rampen sind überwunden, bis ich auf dem Schulhof innehalte und verstehe, dass ich in 39 Stunden von Paris nach Brest geradelt bin.


Zurück nach Paris


In Brest verbringe ich eine gute Stunde bei einem deftigen Frühstück und ein paar Plauschereien, um mich dann wieder auf mein Pinarello zu schwingen. Natürlich könnte man jetzt stöhnen, die gleiche Strecke wieder zurück fahren zu müssen, aber bei mir setzt die Höchststimmung gerade erst ein. Die Rückfahrt folgt auch nicht exakt dem Hinweg, sondern verläuft zunächst nördlich des Flusses Elorn bis Landerneau, und trifft dann in Sizun wieder auf die bekannte Route. Hier, wo ich heute meinen Kaffee in der Morgendämmerung trank, kommt mir nun der endlose Strom derer entgegen, die Brest noch vor sich haben. Beide Straßenseiten sind also gut gefüllt, als ich an diesem Tag zum zweiten Mal den Roc'h Trevezel erklimme. Im Anstieg treffe ich Jörg wieder, der mit seiner Achillessehe zu kämpfen hat. Oben macht er eine Pause, aber später treffe ich ihn doch wieder.

Gegenüber den mir entgegen fahrenden Randonneuren empfinde ich weder Triumph noch Mitleid, so wie diejenigen in mir keine hohen Emotionen auslösen konnten, die mir auf meiner Hinfahrt entgegen kamen. Ich bin auf meiner eigenen Fahrt unterwegs; zwar gemeinsam mit Tausenden anderen, aber ohne deren emotionale Einflüsse auf meinen Zustand. Bis zur nun nicht mehr unbekannten Kontrollstelle von Carhaix folgt der Rückweg der D764, einer gut ausgebauten Schnellstraße. Es ist schon wundersam, welch unterschiedliche Straßen sich hinter dem Buchstaben D verstecken können. Diese hier brauche ich eher nicht und bin froh, dass wir die nächsten 400 Kilometer auf dem bewährten hinweg zurücklegen dürfen. Nun ist mir jede kommende Kontrollstelle schon bekannt, auch wenn die Erinnerungen der Hinfahrt schon angenehm verschwimmen und ineinander übergehen.

In Carhaix sieht das Bild nun anders aus als noch einige Stunden zuvor. Lagen am nächtlichen Morgen noch überall schlafende Radler auf jedem Fleckchen Flur herum, so zeigt sich unter den jetzt Anwesenden weniger ein Bild der Müdigkeit als ein Bild der Erschöpfung. Niemand hier befindet sich noch auf dem Hinweg. Alle Randonneure, die es bis hierher geschafft haben, sind 700 Kilometer weit gefahren und auf dem Heimweg. Dass dieser Umstand nicht nur Erhabenheit auslöst, ist hier gut sichtbar. Einige scheinen derart gezeichnet, dass sie nicht auf dem Rad in Paris ankommen werden. Jörgs Achillessehne hat mir vor Augen geführt, dass wir hier unseren Körpern doch mehr abverlangen, als wir bereit sind zuzugeben.

Ich aber fahre weiter. Das Hochgefühl fängt gerade erst richtig an zu tragen. Den mich üblicherweise verfolgenden Leistungsdruck habe ich wohl überwältigt. An mir vorbeiziehende Radler, die lange nach mir gestartet sind, entlocken mir nur noch freundliche Grüße. Die sonst aufwallenden Gedankenspiele über schnelleres Fahren und früheres Ankommen bleiben aus. Ich kann das Radfahren vollkommen genießen. Dieser Zustand ist in meinen Augen das Ziel des Randonneurs bei der Bewältigung der Lanstrecke. Und auch körperlich geht es mir wirklich noch gut. Natürlich wird der Hintern nun an jeder Kontrolle gewaschen und eingeschmiert. Aber darüber hinaus bin ich beschwerdefrei. Manche Haltungsermüdung hat sich als nicht andauernd herausgestellt.

Natürlich ist die Situation günstig. Die Sonne scheint nun den dritten Tag in Folge vom Himmel, und der leichte Wind hat scheinbar vollkommen aufgehört zu wehen. Die Stimmung der Radler und der Anwohner am Straßenrand ist wirklich wunderbar, und zuversichtlich bezüglich meiner Weiterfahrt genieße ich mehr und mehr die kulinarischen Darbietungen der Freiwilligen und Bewunderer. In Loudéac geht es nun beschaulicher zu, und mir scheint die Bewohner nehmen PBP lediglich als Anlass für ihr riesiges Stadtfest. Sie freuen sich ihres Lebens, und obwohl sie die Randonneure anfeuern, feiern sie doch auch sich selbst.

Wieder stellt sich die Frage nach der Nachtruhe. Tinteniac bei Kilometer 850 werde ich nur mit viel Nachdruck erreichen. Und schon auf der Hinfahrt, bei der Reparatur meines Rades, hatte ich mir die Geheimkontrolle Quedillac ausgeguckt. Da man hier auf der Rückfahrt nicht stempeln muss, ist der Schlafsaal vermutlich leerer als an den regulären Kontrollen. So entscheide ich mich, hier um 23 Uhr einzukehren, und tatsächlich sind die Betten nahezu leer. Wieder stehe ich halb unter einen kalten Dusche, um daraufhin unter einer richtigen dicken Decke in den Schlaf zu fallen. Noch einmal gönne ich mir vier Stunden.

Als ich geweckt werde, ist der Raum völlig überfüllt, sogar auf dem Gang und hinter den Esstischen liegen schlafenden Randonneure. Anscheinend liege ich wohl noch vor der großen Masse, und ein bisschen ermuntert mich dieser Gedanke dann doch. Mit ein paar Croissants zum Frühstück setze ich mich wieder in den Sattel. Es ist ja noch sehr früh am Morgen, eigentlich tiefe Nacht. Wie ein paar Nachtschwärmer sind einige Radler auf der Strecke unterwegs, doch die Masse liegt scheinbar irgendwo und schläft. Hier im Landesinneren ist kein Nebel zu sehen, und so rausche ich durch die trockene, mondhelle Augustnacht.

Zeit der Zweifel


Im ersten Morgengrauen komme ich nach Tinteniac. Dann gleich weiter nach Fougères, wo unter den Randonneuren langsam feierliche Stimmung aufkommt. Die Bretagne liegt fortan hinter uns, und drei Viertel der schier unvorstellbaren Distanz sind gemeistert. Meine Laune ist weiterhin gut, jedoch klingt der innerliche Höhenflug ganz langsam ab. Es war eine tolle Fahrt bis hierhin, aber so langsam könnte sie ruhig vorüber sein. Am Nachmittag überqueren wir den 1.000-Kilometer-Marker. Während viele anhalten, frohlocken und fotografieren, fahre ich ohne große Gefühlsregung weiter. Es fühlt sich noch immer gut an, einfach Rad zu fahren. Aber Paris ist noch weit entfernt.

An diesem vierten Tag auf dem Rad fühlt sich vieles schon wie Routine an. Das kontinuierliche Pedalieren, die ganzen Randonneure, die feiernden Anwohner, die liebliche Landschaft, das ewig gute Wetter. Auch die Straßen sind die gleichen wie auf der Hinfahrt. Anfangs dachte ich, sie wären an vielen Stellen frisch asphaltiert worden. Das mag stimmen, immerhin folgte einen Monat zuvor die Tour de France einem Teil der Strecke. Nun habe ich das Gefühl, die Straßen seien gar nicht die selben wie noch drei Tage zuvor. Der Asphalt kommt mir so rau und ungleichmäßig vor. Das liegt natürlich an den geschundenen Nerven in meinen Händen, die die andauernden Vibrationen, die vom Reifen über die Gabel und den Lenker weitergereicht werden. Die Strecke ist einfach zu lang, um sie körperlich unversehrt zu überstehen.

In Villaines-la-Juhel angekommen, es ist Mittwoch Nachmittag, rufe ich Claudia an. Jeden Tag habe ich das getan, um mich nach meiner Familie zu erkundigen. Als ich ihr in weiterhin guter Stimmung verkünde, dass es nun gerne vorbei sein könnte, wird mir klar, dass mir die Prüfung von Paris-Brest-Paris noch bevorsteht. Meine Reisegeschwindigkeit lässt nun spürbar nach. Und als ich im Anstieg nach Mortagne-au-Perche bin, spüre ich meine linke Achillessehne. Endlich meldet sich also mein Körper und unterstreicht die schleichenden Gedanken, dass nun das Sofa angebracht sei.

Den Anstieg erklimme ich in sehr ungleichmäßigem Tritt, und mir ist klar, dass ich das einige Anstiege zuvor schon so gehandhabt habe. Das Problem meiner Achillessehne mag hausgemacht sein, indem ich aus Nachlässigkeit begonnen habe, Anstiege ungleichmäßig hoch zu treten. Aufstehen, reintreten, wieder hinsetzen - auf langer Strecke ist das Gift. Oben parke ich mein Rad und hole mir meinen Stempel, dann schreite ich zum Abendessen über. Der Gedanke, die letzte Nacht so weit wie möglich -- idealerweise bis Paris -- zu fahren, wird hier beerdigt. Zumindest ist eine ausführliche Pause angesagt.

Und hier in Villaines treffe ich Olaf wieder, nachdem ich ihn auf dem Hinweg kurz nach dieser Kontrolle verloren habe. Nach einem kurzeh Erfahrungsaustausch beschließen wir, zusammen weiter zu fahren: Aber erst nach einer Portion Schlaf. Um 22 Uhr liegen wir dann im Schlafsaal und gönnen uns noch einmal zwei Stunden. Zur Geisterstunde stehen wir dann auf, wobei mir die Uhrzeit völlig bedeutungslos vorkommt. Wichtig war die Erholung durch den Schlaf, wichtig ist die Weiterfahrt -- alles andere sind nur Details.

Die Straßen sind voller Radfahrer. Scheinbar versuchen nun alle, bis Paris durchzuhalten. Dass dies nicht jedem gelingt, lernen wir von einem Amerikaner, der mitten auf der Straße, im Schein einer Laterne, an seinem Fahrrad herum bastelt. Scheinbar hatte er einen Platten,  diesen geflickt, und dann seine Kette geöffnet. Die Kette kann er nun nicht mehr schließen. Vollkommen umnebelt ist er, nimmt uns kaum wahr. Olaf kümmert sich um sein Rad, während ich den Radverkehr regele. Der Amerikaner schimpft vor sich hin und bringt für unsere Hilfe kaum ein Danke über die Lippen. Er beteuert, weiter fahren zu können; tut dies aber derart schwankend, dass wir sein Ende schon absehen können. Tatsächlich finden wir später heraus, dass er kurz nach diesem Zwischenfall aufgegeben hat.

Olaf gibt nun den Tritt vor, den ich von hinten mahnend kontrolliere. Bei bewußter, gleichmäßiger Trittfrequenz und gemäßigter Geschwindigkeit kann ich schmerzfrei fahren. Das bekräftigt mich in der Annahme, dass unvorsichtiges Reintreten für den Zustand meiner Achillessehne verantwortlich ist. Nun denn, so könnte es klappen, Paris scheint erreichbar. Olaf ist in Höchstform, quatscht mit jedem an dem wir vorbei fahren. So haben wir auch immer eine Gruppe Radler, die seinen Sog dankend mitnehmen. Die Strecke wird nach langer Bergabfahrt zunehmend flacher, und so kommen wir in Dreux an, der letzten Kontrollstelle vor Paris. Kurz treffe ich auch Jörg wieder, der seine Achillessehne auch im Griff hat.

In Dreux halten wir wirklich nur zum Stempeln an, dann sitzen wir wieder auf dem Rad. Lächerliche 65 Kilometer liegen noch vor uns, das sollte in drei Stunden zu bewerkstelligen sein! So rollen wir mit unserer Gruppe durch die flache Ebene vor Paris in den fünften Tag hinein, Olaf fleißig quatschend, ich schweigend meine Trittfrequenz kontrollierend. Im Wald von Rambouillet warten noch zwei leicht giftige Anstiege, doch dann überwiegt die Sicherheit: wir werden ankommen. In jeder Bushaltestelle liegt ein erschöpfter Randonneur. Auch das nahe Ziel kann so manchem nicht mehr helfen, sein Vorhaben zu meistern. Scheinbar endlos ziehen sich die letzten zehn, dann fünf Kilometer. Durch den Park nähern wir uns dem Vélodrome, stellen unsere Räder ab, und sind da.

Und jetzt?


Olaf und ich umarmen uns. In unser Heft kommt ein letzter Stempel, dann müssen wir es abgeben. Kein Stempelheft, kein Fahrrad -- was sollen wir denn jetzt tun? Es ist neun Uhr am Donnerstag morgen, wir sind zurück in Paris und schauen den Massen zu, die eintrödeln oder schon in einer Ecke liegen und schlafen. Wir setzen uns zu den Engländern und trinken erst mal ein Bier. Etwas zu essen gibt es auch, und ein wenig Euphorie setzt auch ein. Das Wichtigste ist aber Schlaf, und so setze ich mich wieder auf mein Rad und nehme die letzten Kilometer zu meinem Hotel in Angriff.

Es ist nicht so leicht. Ganz gemächlich geht es vorwärts, Hintern und Sehne wollen endlich ruhen. Im Hotel dusche ich eine dreiviertel Stunde lang, dann schlafe ich bis zum frühen Abend. Nach einem ausgiebigen Diner gehe ich wieder ins Bett und wache am Freitag morgen wieder auf. Dann geht es ans Einpacken, und ich fahre mit dem Rad zurück zum Gare de l'Est. Das fällt mir nun wirklich schwer. Immerhin habe ich den halben Tag dafür Zeit, und im Bummeltempo zu fahren ist auch mal wieder angenehm. Rad zerlegen, ab in den Zug, und nach Hause.

Das war es nun also? Das war Paris-Brest-Paris. Die Erkenntnis reift, dass ich in der Lage bin, die unglaubliche Strecke am Stück zu bewältigen. Nun scheint es also keine Grenzen mehr zu geben. In der Euphorie der nächsten Tage, ja Wochen, dreht der Kopf völlig auf und plant die Abenteuer der nächsten Jahre. Die Distanz ist nun kein Hindernis mehr: welche Herausforderungen mag es da geben? London-Edinburgh-London mit seinen 1.500 oder Skandinavien mit 2.100 Kilometern? Die Alpenrundfahrt mit unendlich vielen Höhenmetern?

Eines ist gesichert: Paris-Brest-Paris 2019. Die Stimmung in Kombination mit einer solchen Veranstaltung ist einzigartig. Und die wellige Strecke durch die bretonische Landschaft ist die unverkennbare Prägung dieser Herausforderung.

Montag, 27. Juli 2015

Knapp 600 Kilometer, und qualifiziert

Können schwere Erlebnisse auf dem Rad Traumata nach sich ziehen? Um solch eine Frage gar nicht erst aufkommen zu lassen, stelle ich mich dieses Jahr erneut meiner Härteprüfung, dem Tod in Vesoul. Von Freiburg aus geht es wieder in die tiefe Wildnis des Schweizer und Französischen Jura. Wie im Vorjahr sind Temperaturen deutlich über 30 Grad angekündigt. Piano lautet also die Devise.

Der Doubs unterhalb von La-Chaux-de-Fonds, Grenze zwischen Frankreich und Schweiz
Die Startprozedur hat sich eingespielt, ich kann nachts zuvor gut schlafen und bin beim Randonneursfrühstück gar nicht mehr aufgeregt. Ich freue mich, zumal ich mich ein paar Tage zuvor mit Matthias zu gemeinsamer Runde verabredet habe. Gemütlich quatschend satteln wir die Räder und reiten los.

Auch die Fahrt durch das morgendliche Freiburg ist so vertraut, der Anstieg über die Söldener Höhe kaum mehr wahrnehmbar, und die lange Partie am Rhein entlang ist in ihrer Eintönigkeit auch nicht störend. So kommen wir in die Hügel des Sundgau, in dessen Dörfern die Feuerwehr mit den Erdrutschen zu kämpfen hat, welche durch die Unwetter der letzten Nacht verursacht wurden. Unsere Räder sehen gleich aus wie nach einem Cross-Rennen. Dann geht es in die Schweiz und in die imposante Einfahrt nach Porrentruy. Mittagessen beim Coop, auch hier nichts Neues.

So viel Bekanntes, so viel Routine --- ist es da nicht geradezu einfach, einen 600er zu fahren? Dieser Gedanke kommt mir, aber ich verscheuche ihn eilig. Immerhin ist dies mein neunter Brevet und ich weiß allzu gut, dass jeder einzelne eine Prüfung für sich ist. Nun gut, aber bisher bin ich jeden Brevet auf einer anderen Strecke gefahren. Erst hier im tiefen Jura bin ich das zweite Mal auf einer bekannten Runde unterwegs.

Nach ausgiebiger Mittagspause fahren Matthias und ich nun über den wunderschönen Col de Montvoie in den Jura, genießen die rauschende Abfahrt und folgen dem Doubs. Die Kontrollfrage in Orgeans ist anders als im Vorjahr, und hier hat Urban auch eine klitzekleine Streckenänderung eingebaut, die zwei Kilometer gegen ein paar Prozent Steigung eintauscht. Wieder runter zum Doubs, wieder rein in die Schweiz, und hinein in den langen Anstieg nach La-Chaux-de-Fonds, diese wundersame Stadt aus einer anderen Welt.

Der Anstieg ist wie im Vorjahr unter der drückenden Hitze sehr anstrengend und zehrend. Dieses Jahr möchte ich aber nicht in Chaux-de-Fonds im McDonalds am Bahnhof rumhängen, deswegen gehen wir gleich in den nächsten Anstieg zum Col Vue des Alpes. So hängen wir eben dort oben im überteuerten Gästehaus rum, essen die teuersten und gleichzeitig schlechtesten Spaghetti meines Lebens und schauen den Einheimischen beim Mumienschieben bei seltsamer Schlagermusik zu. Immerhin sind wir am höchsten Punkt der Runde angelangt; von hier an geht es tendenziell bergab.

Bergab geht es auch für zwei Randonneure, die sich hier enorm teure Unterkunft im Bettenlager erkaufen und die Sache damit beenden. Und bergab geht es auch langsam mit meinen Gedanken. Nach diesem Hitzetag kann ich die Spaghetti nur mit zwei Radlern herunter würgen, und deren Alkohol verbreitet auch keinen Optimismus. Dann taucht auch noch Walter auf, den ich um diese Uhrzeit überhaupt nicht mehr hier erwartet hatte, und wenn selbst er so sehr kämpft --- wo soll das für mich hinführen? Aber Walter kämpft mehr mit den Nachwehen seiner Gastritis als mit dem Brevet, und so steigen auch Matthias und ich auf die Räder und rollen den Pass wieder herunter.

Es geht in die Nacht durch das Sibirien der Schweiz, das im Sommer doch erträglich ist. Nach solch einem anstrengenden Tag werde ich schnell müde und kann Matthias zu einer frühen Nachtpause überreden, als am Horizont die Gewitter los brechen. Wir sind noch nicht in Champagnole, dem geographischen Wendepunkt des Brevets.

Nach zweistündiger Dinier- und Schlafpause fahren wir weiter und knibbeln uns in Champagnole unsere Aufkleber vom Ortsschild ab. Der Morgen dämmert schon durch die nebelverhangenen Äcker und Wiesen, aber ich komme nicht auf Touren und schleiche dahin. Der erste offene Bäcker kann dem etwas entgegen wirken, aber auf flottes Fahren habe ich keine Lust. In Salins-les-Bains lesen wir Frank auf, der sich kurz darauf einen Platten einhandelt. Ist mir Recht, so geht es gemütlich weiter.

Auf dem Weg nach Gonsans wird uns klar, dass wir die dortige Kontrollstelle bei Kilometer 400 wohl nur ganz knapp vor Kontrollschluss erreichen werden. Frank und Matthias drücken auf die Tube, aber mir ist gerade alles gleichgültig. Vollkommen gleichgültig. Nach den schönen Gebirgspässen kommen hier nur noch blöde Hügel, die ich nicht mehr hoch drücken will und nur mühsam einen nach dem anderen erklimme. Paris-Brest besteht ja nur aus solchen Hügeln, und das soll Spaß machen? Schon fünf Hügel in Folge machen ja keinen Spaß. Ich will Gebirgspässe, Landschaften, Schluchten! Ich will hier weg, aber das Problem im Jura ist, dass man nicht weg kommt. Außer mit dem Auto, oder eben mit dem Rad. Mir bleibt nur das Rad. Mit diesen Gedanken komme ich zwei Minuten nach Kontrollschluss an der Boulangerie Artisanale an und hole mir meinen Stempel.

Nicht nur einen Stempel, sondern auch Croissants und Éclaires. Dann geht es mir wieder besser. Nun sind wir also am Zeitlimit. Das ist noch kein Problem, schließlich können wir schnell genug fahren, um die verbleibenden 200 Kilometer bis Freiburg in den nächsten dreizehneinhalb Stunden zu schaffen. Das Problem ist natürlich der Kopf, der den Körper dazu animieren muss, Rad zu fahren. Denn voran kommt man nur auf dem Rad; in diversen Kneipen, Dönerbuden und Restaurants lassen sich auch dreizehn Stunden recht schnell verplempern.

Ich schaffe das. Mit positiven Gedanken rolle ich Vesoul entgegen. Denn eines ist gewiss, in Vesoul möchte ich heute nicht sterben. Also komme ich guter Dinge unter sengender Sonne zur Mittagszeit dort an, hole mir meinen Stempel und will gleich weiter fahren. Just in dem Moment kommt Matthias an, und ich mache seine Pause gleich noch mit, dass wir gemeinsam weiter fahren können.

Wir nehmen Kurs auf die Vogesen, deren Ausläufer uns heute auf dem Weg nach Freiburg auch nicht mehr aufhalten werden. In Champagney schließt ein Jürg zu uns auf, als wir gerade einen Dönerladen betreten. Beim Abendessen können wir unsere Erlebnisse austauschen und starten anschließend in die letzten 100 Kilometer. Die lange Fahrt durch die Rheinebene auf Fessenheim zu, dort über den Rhein, und gegen halb elf sind wir an der Autobahnraststätte Bremgarten. Platter Reifen für Jürg. Wir haben es quasi geschafft, bis Freiburg sind es nur noch 25 Kilometer.

Doch als wir unsere Karten stempeln lassen und ins Freie treten, trommelt das dritte Gewitter des Wochenendes auf das Wellblechdach der Tankstelle. Es donnert heftig und die Blitze zucken aus allen Richtungen. Hier erfahre ich erstmals von Urbans Gnadenstempel: der Möglichkeit, bereits in Munzingen am Tuniberg, bei Kilometer 600, zu stempeln, sollte man die Zusatzstrecke bis Freiburg nicht mehr bewältigen können. Wir ziehen unsere Regenjacken an und fahren in das Unwetter. Rund herum sehen wir Wetterleuchten, über dem Rhein, den Feldern, am Kaiserstuhl, im Schwarzwald, im Breisgau. Kluge Ratschläge zu Kinderzeiten über Gewitter und Radfahren verdränge ich und sehe zu, dass ich mit den beiden schnell über die Dörfer flitze.

So kommen wir in Munzingen an, finden das Schloss Reinach und bitten um einen Stempel. Als der Portier die Uhrzeit einträgt wird mir erst klar, wie knapp es bis hierher war --- es ist 23:58 Uhr.

Nach Freiburg müssen wir natürlich trotzdem noch. Das Unwetter ist vorbei, und wir radeln über nasse Radwege in die Stadt.

Was für ein Ritt, was für ein emotionales Wechselbad. Nach 200, 300 und 400 Kilometern sind auch die 600 geschafft: ich bin qualifiziert. Um keine Zweifel mehr aufkommen zu lassen, finalisiere ich am nächsten Tag sofort meine Registrierung für Paris-Brest-Paris. Wir sehen uns am Start!

Freitag, 22. Mai 2015

Löwenzahn-Brevet

Auch an diesem Brevet-Samstag war der Himmel über Freiburg zum Start der 400-Kilometer-Tour zum Bodensee von gewohntem Grau. Nicht nur grau, sondern dunkelgrau, beinahe bedrohlich schwarz waberten die Wolken dort oben. Im Dreisamtal begrüßte die unaufhaltbaren Radfahrer freudenvoll der Schwarzwald. Von diesem ging ein Strahlen erzeugt von Millionen Löwenzahnblumen aus, das den grauen Himmel durchleuchtete.

Dieses Land der Löwenzahnblüten zu erreichen war ihr gemeinsamer Antrieb, und diesen Antrieb frohlockend und effizient in Bewegung umzusetzen ist das Ziel des Randonneurs. Jedoch stand ihnen der Schwarzwald dem Eintauchen in dieses verheißungsvolle Land im Weg. Über die Spirzenstraße hoch zum Thurner, das will erst einmal erarbeitet werden. Bei Jan lief es gut an diesem Morgen, und in seinem Flug bemerkte er erst viel zu spät, dass Stefan gar nicht mehr hinter ihm war, mit dem er gerne ein Stück zusammen gefahren wäre.

Über die schnelle Schwarzwaldhöhenstraße fuhren die Randonneure in ein ruhiges Seitental, das den Schwarzwald von seiner natürlichen, gewaltigen Seite zeigt. Um aus diesem Tal hinaus zu steigen, müssen sie eine alte, sehr ungleichmäßige Steilstraße hinauf, und sodann hatten sie den Schwarzwald auch schon bewältigt. Geradezu einfach war der Eintritt ins Land der Korbblütler, und die Abfahrt hinunter sollte sie mit solcher Euphorie überschütten, dass Jan sich in seinem jugendlichen Überschwang schon die Zieleinfahrt ausmalte.

Die 15 Kilometer lange Schussfahrt wurde von einem Haufen schneller Schweizer angeheizt, deren Feuer bei der ersten Kontrolle in Bräunlingen noch längst nicht erloschen war. Dort setzte Urban sich an die Spitze und zeigte ihnen, wie Fahrradfahren geht. Das war Jan zu viel, und nach einigen Hügeln ließ er den Zug davon fahren. Auf der Hochebene zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb gedieh der Taraxacum schon ganz besonders. Nach kleineren steilen Anstiegen, beispielsweise nach Fürstenberg, folgte der zweite Teil der Schwarzwaldabfahrt über einen Schleichweg über die Schweizer Grenze und durch den Kanton Schaffhausen, hinunter zum Rheinfall. Zweite Kontrolle, ein Viertel der Strecke geschafft, den Schwarzwald überquert.

Dann rollte Jan alleine weiter, frohen Mutes und frohlockend angesichts des unerwartet aufdringlichen Frühlingswetters. Der abgeklungene graue Himmel schickte noch seine Nachwehen in Form von Westwind hinterher, der den Löwenzahl am Straßenrand verbog, den ersten verblühten Stängeln ihre Samen entriss, und Jan rheinaufwärts nach Konstanz trieb. Auf dem Weg dorthin traf er Friedrich, mit dem er zur dritten Kontrollstelle am Bodensee einlief.

Nach einer Portion Spaghetti in einer Bierbude, die keinen Stempel parat hatte, trafen sie auf Stefan, der also eine halbe Stunde länger bis hierher gebraucht hatte. Das ist keine Zeit auf solch einer Strecke. Als die drei sich im veganen Café Sol den dritten Stempel und einen Espresso abholten, machte Jan sich keinerlei Gedanken um Stefan, der zurück blieb um Mittag zu essen. Am nächsten Tag erfuhr Jan, dass Stefan nur noch 10 Kilometer weiter gefahren war, bis seine verschleppte Erkältung die Vernunft auf den Plan rief und ihn zum Aufhören überredete.

Nichts von Abbruchgedanken ahnend, fuhren Friedrich und Jan weiter in die lieblichen Hügel des Hegau. Trotz der allumgebenden Löwenzahnpracht hegten sie erste Zweifel an der harmlosen Anmutung dieser Bodenunebenheiten. Bei einem ausgewachsenen Gebirgspass weiß man ja, woran man ist. Man fährt ein oder zwei Stunden bergauf, dann geht es runter. Hier in den Hügeln geht es immer etwas hoch, dann etwas runter. Sie taten sich schwer, den Nettohöhengewinn einzuschätzen. Nun, das spielt auch keine Rolle, die Strecke muss abgeradelt werden.

Der landschaftliche Höhepunkt versteckte sich hinter einer der doch recht zahlreichen Straßensperrungen dieses Brevets. Dort war die Durchfahrt ausdrücklich auch für Radfahrer gesperrt, was Jan nicht von einer Umleitung überzeugen konnte. Friedrich fuhr nach einem kleinen Scherz ("Da vorne steht die Polizei!") hinter ihm her. Die Abfahrt durch das enge Tal gehörte nur ihnen, und der Grund der Sperrung war die hälftig von Regengüssen weggerissene Fahrbahn. Für ihre beiden Fahrräder gab es kein Hindernis

Nun ging es der Donau entgegen, und die letzten Hügel dorthin nahm Jan angesichts des bevorstehenden Abendessens mit Leichtigkeit. Friedrich kämpfte sich hinter ihm her. Am vierten Kontrollpunkt wartete das Hotel Beuron mit seiner Küche auf, und gemeinsam mit einem großen Haufen Mitstreiter ließen sie sich die Maultaschen schmecken. Bei diesem Brevet konnte Jan die fabelhaften Pausen richtig genießen, so dass er sich schon auf die Weiterfahrt freute.

In der Abendsonne erstrahlten die Kalkwände des Donautals, und mit ihnen die Löwenzahnblüten. Aus diesem Tal mussten die wackeren Radler hinaus, und so ging es in engen Serpentinen den Albrücken hinauf. Jan drehte sich beim klettern kaum um und merkte erst oben, dass Friedrich nicht mithalten konnte. Er schickte Jan und den Jungspund Daniel weiter, sie sollen nicht auf ihn warten.

Nach diesem Verlust beägute Jan seinen neuen Begleiter Daniel. Dessen Knie waren schon von leichtsinnigen Bergsprints geschunden, und die Strecke vor ihnen war doch noch so weit. Also ließen sie ihre Räder gemächlich durch das Bäratal gleiten, um am Talende die Schwäbische Alb zu überwinden. Die Serpentinenabfahrt hinunter von diesem Kalksteingebirge berauschte die beiden, und die Talfahrt durch Balingen war allzu schnell vorbei.

Die Dunkelheit legte sich gemächlich über die Löwenzahnwiesen, und die Nacht kroch die ach-so-niedlichen Albhügel empor. Nicht nur Daniel standen die Hügel im Weg, auch Jan suchte nun verzweifelt nach der Leichtigkeit, mit der er sie bei Tageslicht noch im Wiegetritt unter die Räder genommen hatte. Von eitel Sonnenschein war keine Spur mehr zu sehen, und die Alb zeigte sich von ihrer finsteren Seite. Aufgelockert wurde die Fahrt durch Samstagnacht-Ausgänger, so etwa in der Partystadt Sulz am Neckar, deren Tal wiederum hinab- und auf der anderen Seite hinaufgefahren wurde.

Freudenstadt, der fünfte und letzte Kontrollpunkt, schien so nah, doch war er so unerreichbar wie Kafkas Schloss. Die Hügel hatten jeden lieblichen Anschein verloren, und in der Dunkelheit war es weniger klar denn je, ob sie mit jedem Hügel der Bergfeste Freudenstadt näher kamen, oder ob sie dem Abgrund entgegen fuhren. Vor dem erklimmen eines jeden Hügels stand die Hoffnung, dass oben endlich Freudenstadt liege.

Wie bei jedem Brevet war es schließlich geschafft, und um Mitternacht war die Stadt erreicht. Dort sanken die beiden in die tiefen Sessel der Tankstelle und sehnten sich nach Erholung, aber auch nach der definitiven Ankunft. Also mussten sie sich noch einmal aufraffen und die müden Beine wecken. Dies gelang nicht so recht an den letzten Albhügeln, war dann auf der Schussfahrt das Wolfachtal hinab vorerst nicht mehr nötig. Diese Abfahrt war ein Geschenk der blütenlosen Nacht. Sie wollte gar nicht enden, und Jan konnte nicht glauben, dass 600 Meter Höhenverlust eine solche Rolleinlage gewähren konnten.

Auch diese Abfahrt hatte ein Ende, und so kurz vor dem nahenden Freiburg legte der dunkle Schwarzwald noch ein Hindernis in den Weg. Büchereck klingt nach Märchenstunde, doch der einzige Wunsch der angeschlagenen Randonneure war die Ankunft und ein warmes Bett. Das 18%-Schild wurde noch belächelt und als Übertreibung abgetan, aber ein paar Meter höher schlug der Berg hart zu: die beiden stiegen ab und schoben. Ihre Beine wurden dadurch zwar nicht frischer, aber bald ließ die Steigung nach und es konnte wieder gekurbelt werden. So standen sie auf der letzten Passhöhe, mit der Gewissheit bis Freiburg kein solches Hindernis mehr anzutreffen. Mit einem äquivalenten 18%-Schild ging es im Sturzflug hinab.

Aber der Schwarzwald spie ihnen noch seinen kalten Hauch hinterher, der die beiden im Elztal frösteln ließ. Auch hier erfuhren sie eine lange währende Abfahrt, aber Jan mochte seine Beine kaum noch zum rotieren bringen. Ein kurzer Stopp in der Filiale der Volksband Oberwinden brachte nicht nur kurzzeitig Wärme, sondern weckte auch den Turboantrieb, der selbst Daniel noch überraschte. Dieser Antrieb hielt bis Freiburg, wo das Morgengrauen die verwegenen Radler begrüßte. Dort, am Wegesrand der Stadtgrenze, weckte die Sonne schon bald wieder die Löwenzahnblüten.

Montag, 4. Mai 2015

Auf der Suche nach der verlorenen Lust

Ein Schnippchen wollte ich schlagen, indem ich Schweizer Schokolade mit auf diesen 300er Brevet in die Schweiz nehme. So müsste ich sie nicht zu überteuertem Fränkli-Kurs an der Tankstelle kaufen. Aber man soll auch keine Eulen nach Athen tragen. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich die ganze Tour über keine Lust auf Schokolade haben würde. Die Tafel hat durch das eindringende Wasser gelitten, und es dann in einem Stück ins Ziel geschafft. Ähnlich erging es mir. Die Lust musste ich gegen Ende mit der Lupe suchen, mehrmals hat der Regen an meiner Kleidung genagt, und doch bin ich durch gekommen.

Wer es versteht, sich Lust zu machen, hat am Samstag sicherlich einen guten Start gehabt. Die Tage zuvor hatte ich den Wetterbericht gar nicht mehr gelesen, um mir eben jene nicht zu verderben. So setzte also schon auf dem Weg zum Frühstück Nieselregen ein, und vor dem Start habe ich die Regenklamotten angezogen.

Dominant war die Unlust nicht: Die vielen bekannten Gesichter im Augustiner in Freiburg ließen Freude aufkommen. Reinhold traf ich erst unmittelbar vor der Abfahrt, und in kurzen Worten verabredeten wir uns zu gemeinsamer Runde. Gleich vor Staufen wurde die Kameradschaft geprobt, als ich wegen einem Platten rechts ran fuhr. Reinhold leistete Unterstützung, ohne die dieser fitzelige kleine Glassplitter sich wohl länger als 20 Minuten hätte bitten lassen.

Die Strecke mit dem Motto "Bölchen" zielt nicht nur zum so bezeichneten Berg im Schweizer Jura, sondern nimmt auf dem Weg dorthin gleich noch den Pass am Schwarzwälder Belchen mit. Also ging es erst mal hinauf auf 1.000 Meter, begleitet von gemächlichem Regen. Reinhold und ich fuhren harmonisch nebeneinander den Anstieg hoch, wobei wir einen schönen Rhythmus fanden. Oben kamen wir dann im Sonnenschein an! Nach getaner Arbeit am Berg zeigte sich der Schwarzwald im Frühlingskleid, und die lange Abfahrt durch das Kleine Wiesental war geprägt von echter Lust. Auch der Rhein glänzte, als wir ihn in Bad Säckingen auf der antiken Holzbrücke durch einen Mittelaltermarkt passierten.

Der Appetitanreger Schwarzwald lag hinter uns, da ging es auch schon in den Jura. Dieses fantastische, belächelte und unbekannte Mittelgebirge wartete mit seinem Gegensatz aus sanften Hügeln und schroffen Kalkwänden auf. Die ganze Umgebung erstrahlte im kräftigsten Frühlingsgrün, und der Geruch des allgegenwärtigen Bärlauchs war tiefgehend halluzinogen. Eine Bühne für die pure Lust am Radfahren.

Steil verlief der Weg hinauf zum Chilchzimmersattel, dem Passübergang am Schweizer Bölchen. Zu allen Blickrichtungen türmten sich vertikale Kalkabrisse auf, während wir auf einem kleinen Sträßchen durch das satte Grün kurbelten. Hier ging ich es schon etwas langsamer an: 2.000 Höhenmeter Anstieg auf den ersten 100 Kilometern sind doch etwas ungewohnt. Oben im Gasthaus trafen wir viele andere Randonneure und stürzten uns lustvoll auf das Pasta-Buffet.

Ich gestehe, dass ich gerne noch ein Stündchen sitzen geblieben wäre. Gefühlt war der Brevet doch schon überstanden: Zwei Drittel der Anstiege hoch gefahren! Jedoch lediglich ein Drittel der Distanz... Reinhold schubste mich zurück in den Sattel und wir gingen in die verwinkelte Abfahrt, die glücklicherweise abgetrocknet war. Hinein in den Kanton Solothurn, den wir in einem langgezogenen Tal querten.

Es folgte der Kanton Bern, bei dessen Eintritt wir in die französischsprachige Schweiz wechselten. So ein Kantonswechsel geht natürlich nie ohne Passanstieg vonstatten. Diese kleine Weisheit behielt auch für den Übergang in den Kanton Jura Gültigkeit, welcher noch einmal eine Auffahrt auf nahezu 1.000 Meter erforderte. Diese Sträßchen haben es in sich; mal sanft, mal brutal, ziehen sie sich durch zerklüfteten Jura-Kalk. Die Abfahrt führte uns durch die verwunschenen und zerfurchten Gorges du Pichoux, wo nach stundenlanger Abwesenheit endlich wieder Regen einsetzte.

Und was für ein Regen. Eine Stunde Fahrt bis Solothurn zogen wir unsere Spur durch das Wasser, das in Bächen über die Straße lief. Der Regen wusch mir dabei auf der Stirn getrockneten Schweiß in die Augen. Das brannte, und wie selbstverständlich kamen Gedanken auf, warum ich das hier mache. Paris kam mir als Argument nicht in den Sinn, und so sammelte ich etwas Sturheit und wir fuhren weiter. In Delémont gab es noch eine kleine Stärkung, der Regen ließ nach, und mit den drei großen Anstiegen hinter und nur noch 100 Kilometern vor uns drehten wir in Richtung Freiburg.

Nichts desto trotz mussten wir noch aus dem Jura raus, und auch die kleineren Anstiege auf unserem Weg summierten sich. Mit der Lucelle überschritten wir die Grenze nach Frankreich, und ich atmete auf, als der Jura schließlich hinter uns lag. Die Lust auf die Flachstrecke am Rhein hielt sich in Grenzen, und meine Knie erzählten noch Geschichten von den bewältigten Bergen.

Und der Regen kam ein drittes Mal über uns. Zwar nicht so heftig wie im Jura, aber dennoch traf mich an dieser Stelle der Tiefpunkt des Brevets. Die Autoscheinwerfer in der Dunkelheit, die zerlaufenen Tropfen auf und hinter den Brillengläsern, der nasse Schmutz auf der Straße, die kargen französischen Landstraßen, der unten im Rheintal leuchtende Flughafen. Ich wollte ins Trockene, mit heißem Getränk und warmer Mahlzeit. Reinhold versuchte mich bis Bremgarten hinter der deutschen Grenze zu ziehen, aber ich mochte nicht mehr. Nur rollen konnte ich noch, und das vermutlich auch nur dank dem Rückenwind.

Reinholds Geduld musste endlos sein, denn tapfer wartete er so manches Mal auf mich. Ich wunderte mich, wie er noch über den Duft des Bärlauchs ins Schwärmen geraten konnte. Immerhin hatte der Regen aufgehört. Vorbei am Chemiewerk Ottmarsheim und am Atomkraftwerk Fessenheim, über den Rhein, und endlich an der Autobahnraststätte Bremgarten ins Warme. Das Abendessen, das wir eigentlich im Augustiner zu uns nehmen wollten, verlegten wir hierher, und genehmigten uns Bockwurst mit Kaffee. Das stärkte, und nach Freiburg rein konnte ich wieder halbwegs lustvoll treten.

Im Augustiner war der Abend noch in vollem Gange, und die eingelaufenen Randonneure saßen fröhlich beim Bier zusammen. In der Laune war ich leider nicht mehr; ich war zu müde und konnte auf das soeben Geleistete bloß etwas gleichgültig zurück blicken.

Die Befriedigung kam erst am nächsten Morgen. Ein Klacks war das, es hatte ja bloß drei Mal geregnet. Und gute Klamotten sind die halbe Miete, nicht einmal die Füße waren nass geworden. Auf nach Paris, ich bin durchtrieben von der Lust auf's Radfahren!

Mittwoch, 8. April 2015

Flussradtour, Grau in Grau

Für den ersten Brevet des Jahres hat Stefan zur Premiere seines neuen Startorts ins Saarland geladen. An das Saarland erinnere ich mich gerne, vor zwei Jahren sind wir den Saarlandradweg entlang der Landesgrenzen abgeradelt. Eine wirklich schöne Runde, die nicht nur Flüssen folgt und einige Höhenmeter aufweist. Der Brevet über 200 Kilometer hingegen beginnt bei Saarlouis und folgt der Saar, um bei Konz die Mosel auf Luxemburger Seite ein Stück zu begleiten. Dann geht es auf einen Abstecher nach Lothringen, um durch ein paar Hügel ins Saarland zurückzukehren.

Gemeinsam mit Ralf und Matthias reise ich frühmorgens an. Über Nacht hat es hier in Wallerfangen gefroren, und die Vorhersage kündigt für den Nachmittag Regen an. Ich bin in dieser meiner dritten Saison recht entspannt, und so bleibe ich auch gelassen, als Ralf noch seine Schuhe wechselt und das Feld schon an uns vorbei rauscht. Zehn Minuten später rollen auch wir los und genießen die ersten Meter des Brevets.

Das erste Drittel der Strecke führt uns nach Norden entlang der Saar. Nach ein paar Metern auf dem Rad kommen wir in eine für den motorisierten Verkehr gesperrten Landstraße, die uns das Fahren versüßt. Ganz zaghaft zeigt sich die Sonne, als wir die Saarschleife ansteuern, die Stefan für ein Saarlandbrevet unausweichlich findet. Die Straße lässt hier ihren geteerten Belag hinter sich und verläuft über wenige Kilometer auf feinem Schotter. "Mehr davon!" sind Matthias und ich uns einig. Meiner Ansicht nach sind zu viele Brevet-Streckenführungen von den Rennrädern der Teilnehmer geprägt, und geben eher von Autos befahrenen Straßen als Rad- und Forstwegen den Vorzug. Auch hinsichtlich meines zukünftigen Rades denke ich mehr und mehr über den vielleicht unnötigen Luxus asphaltierter Straßen für uns Randonneure nach.

Langsam kommen die ersten Randonneure in Sicht, wir nähern uns ja dem Feld von hinten. Mit zwei Karlsruhern rollen wir in die erste Kontrolle in Konz, am Zusammenfluss von Saar und Mosel gelegen. In einem Bioladen gibt es einen Premieren-Gruß des Veranstalters in Form von Schokolade. Die Sonne ist wieder grauen Wolken gewichen, die den Tag bis zur Abenddämmerung prägen.

Nun folgen wir der Mosel und drehen nach Süden. Schlagartig wird uns bewusst, dass das unbeschwerte Vorankommen auch dem Wind zu verdanken war, der uns anschob. Nun müssen wir gegen ihn anschieben. Gegenwind ist so gar nicht mein Fall, ohne Gewicht am Körper und die nötige Muskelmasse in den Beinen komme ich nicht so richtig gegen ihn an. Außerdem vergeht mir dabei etwas die Lust. Glücklicherweise ist Matthias dabei, der sich für ein paar Dutzend Kilometer stoisch hindurch drückt. Ich klemme mich dran.

Wir folgen der Mosel am Luxemburger Ufer, wo ein kleiner Radweg entlang der von Autos zügig befahrenen N10 entlang führt. So kommt bei mir keine Bewunderung für dieses Land auf, und nach zähem Kampf überqueren wir schließlich die Grenze nach Frankreich. Nach dem grauen Luxemburg verlassen wir die Mosel dann auch schon wieder.

Nach der zweiten Kontrollstelle in Koenigsmacker vor Thionville führt die Strecke durch hügeliges, baumarmes Land, in dem mich der Wind weiterhin ärgert. Es bleibt grau. Bei den Anstiegen bekommen meine Beine nun etwas zu tun, und ganz langsam komme ich in die richtige Stimmung für die Langstrecke. Den Wind vergessen und etwas suchen, das den Kopf beschäftigt. Ein kleines Highlight ist die verlassene Bahnstrecke, die wir vor Vigy überqueren. Wohl erhalten für ein Museumsbähnchen, schlängelt sie sich auf morschen Schwellen in Richtung Metz, das unter diesem grauen Himmel vor uns liegt.

Kurz darauf biegen wir scharf links ab, und für einige Minuten haben wir den Wind wieder im Rücken. Das gibt mentalen Antrieb für den Weg zur dritten Kontrollstelle in Courcelles-Chaussy. Auf dem Weg dorthin treffen wir Stefan, der sich mal vor und mal hinter uns die Hügel empor tritt. Wir plaudern über Brevetpremieren und Streckenführung. Stefan betont, dass die Strecke für Freiburger Randonneure natürlich lächerlich flach sei. Und auch Matthias und hat einige Anhöhen erblickt, auf denen man doch wunderbar eine Kontrolle einfügen könnte...

Nach Café au Lait und Éclairs in einer Bäckerei drehen wir die Räder nach Nordosten, mit dem Wind im Rücken! Obwohl noch ein paar Höhenmeter vor uns liegen, fliegen wir jetzt zurück zum Start. Dieser Teil gefällt mir landschaftlich am besten. Die Straßen werden kleiner---bis hinunter zur wunderschönen Kommunalstraße C2---und die Ränder bewaldeter. Hinter der Grenze quert hier der Saarlandradweg. Der versprochene Regen kommt genieselt, vermag uns aber nicht mehr zu bremsen. Bevor er doller wird und das Grau sich mit der Nacht vermischt, sind wir schon wieder in Wallerfangen und stellen die Räder ab.

Nach kleineren mentalen Startschwierigkeiten macht der graue 200er Lust auf die nächste Langstrecke. Am liebsten in Farbe.

Samstag, 21. März 2015

Der Ritt auf den Vulkan

Das Jahr 2014 ist abgeschlossen. Nach einer aufregenden Zeit---ein Sohn geboren, eine Ehe geschlossen, zwei Doktorarbeiten geschrieben---geht es nun also endlich wieder auf Reisen. Zwei Monate gemeinsame Elternzeit verspricht der Staat für unsere kleine Familie. Eigentlich wollten wir nicht weit weg fahren; was kann man sich mit einem Säugling erlauben? Und nun geht es nach Hawai'i.

Hawai'i: Das tropische Paradies, Urlaubsinsel der Amerikaner, Wellenbrecher im Pazifik, Naturparadies, Vulkanwunderwelt.

In diesem meinem ersten Urlaub mit eigener Familie wurden mir zwei freie Tage versprochen. Also nichts wie rauf auf den Vulkan, den Haleakala auf der Insel Mau'i. Zuletzt vor etwa 500 Jahren ausgebrochen, weist der ruhende Schildvulkan einen enorm großen Krater von vielen Kilometern Durchmesser auf. Nach einem Blick in selbigen würde man aber auch glauben, dass der Haleakala vor einigen Jahren noch heißes Gestein gespuckt hat. Schildvulkane blubbern Lava aus und wachsen dadurch gemächlich und gleichmäßig, so dass man den Haleakala vom Strand aus betrachtet auf ein paar läppische hundert Meter schätzt. Weit gefehlt---der Haleakala bringt es auf 3.055 Meter.

Den Amerikanern sei Dank führt ein Highway bis auf den Gipfel. Von Meeresniveau lässt es sich also auf asphaltierten Straßen auf 3.000 Meter klettern. Fix ein Rennrad gemietet, die wohlweislich eingepackten Radklamotten übergeworfen, zwei Wasserflaschen und ein Rücklicht dazu ergattert, Wecker auf 4 Uhr gestellt, und los geht's. Der Blick aus dem Fenster zeigt Unwetter, Stürme, tropischen Regenguss. Nach einer Portion Oatmeal kann ich mich aufraffen. Nach dem ersten Teilstück auf der regennassen Küstenstraße kommt die flache Anfahrt über den breiten Highway. Auf dem Radweg spiegelt sich das Fernlicht der Autos, ich kann kaum geradeaus fahren. Dort ramme ich mir dann auch prompt einen Dorn in den Hinterreifen. Nach einer knappen halben Stunde Flickpause in der nassen Dunkelheit kann mich nichts mehr schocken.

Weiter geht's. Nach dem Abzweig an der Zuckermühle beginnt langsam die Steigung durch die Zuckerrohrfelder. Es dämmert, aber Wolken und Morgennebel verhüllen die Sicht auf den Berg. Das erste Etappenziel ist die Kula Lodge auf 1.000 Höhenmetern. Um den Highway zu meiden, weiche ich auf kleine Ortsstraßen aus, die sich in furchtbar steilen Rampen den Fuß des Berges hinaufziehen. Um 8 Uhr - pünktlich zum Frühstück - ist der erste Teil geschafft. Eine Portion Süßkartoffeln mit viel Knoblauch ist die Belohnung zum zweiten Frühstück. Hier gibt es auch die erste von zwei Gelegenheiten, die Wasserflaschen nachzufüllen.

Gestärkt, aber nicht mehr ganz so frisch in den Beinen, geht es in den weiteren Anstieg. Ein Schild kündigt den Nationalpark an mit dem Hinweis, dass es auf den nächsten 22 Meilen kein Benzin und keine Verpflegung gibt. Hier beginnt nun der eigentliche Anstieg. Die Straße zieht sich in weiten Kehren den flachen Bergrücken empor. Zuckerrohrfelder und bunte Gärten hinter mir lassend, durchquere ich zunächst einen Eukalyptushain. Die Steigung ist gleichmäßig, die Kehren sehr großzügig gezogen, so dass der Amerikaner bequem mit 30 Meilen durch die Kurven rauschen kann. Ein leichter Wind und die stärker werdende Sonne sind Vorboten dieses Wintertages. Schnell finde ich einen gleichmäßigen Tritt im niedrigen, ja vielleicht im niedrigsten Gang. Die Kraft muss schließlich bis oben reichen.

500 Höhenmeter weiter gibt es eine Pinkelpause mit Regenbogen, und es fährt sich schon nicht mehr so leicht an. Mit zunehmend karger Vegetation erreiche ich mit dem Eingang zum Nationalparks auf 2.000 Meter Höhe das zweite Etappenziel. Ich fahre an der Autoschlange vorbei und zeige am Kassenhäuschen mein Ticket vom Vortag. Die nächste Station ist das Besucherzentrum, wo ich meine Wasserflaschen auffüllen kann. Bis dahin sind es allerdings noch 200 Höhenmeter.

Die ziehen sich nun allerdings. Zur Höhensonne gesellt sich hier schon ein ordentlich pfeifender Wind aus südwestlicher Richtung. Am Besucherzentrum angekommen brauche ich eine längere Pause. Nach Bananen und Riegeln könnte ich noch etwas mehr Energie vertragen. Das einzige käufliche Lebensmittel sind gesalzene Macadamianüsse zu gepfefferten Preisen. Her damit!

Nun zeigt der Berg sein Gesicht und die eigentliche Prüfung beginnt. Der Wind stürmt mit etwa 40 Meilen in der Stunde aus Südwesten heran, und jede zweite Kehre ist genau nach Südwesten ausgerichtet. Hier quäle ich mich gegen Sturm und Steigung. Nur der Gedanke an die nächste Kehre mit formidablem Rückenwind lässt mich beim Schieben die Fassung bewahren. Diese sind dann wirklich eine Entschädigung, ich fliege nahezu ohne Treten den Hang hinauf. So wechselt sich Sturmkehre mit Flugkehre ab, und mühsam erklettere ich den Haleakala.

Der größte Motivationskiller ist natürlich, dass ich am Vortag schon mit dem Auto auf dem Gipfel war. Ich weiß schon, wie fantastisch es dort aussieht---und das nimmt die Spannung. Als die 3.000 Höhenmeter geknackt sind, steht zwischen dem Gipfel und dem Radler nur noch ein relativ flacher Straßenabschnitt, der schnurgerade nach Südwesten zeigt. Gegen den Wind! Am Kalahaku-Aussichtspunkt beschließe ich den Tag, ziehe meine Jacke und Handschuhe an und wende das Rad in die Talfahrt.

Die Abfahrt zieht sich. Jede zweite Kehre ist ein Genuss mit Rückenwind, bei den anderen muss ich mich nach unten kämpfen. Einige Zeit später treffe ich an der Kula Lodge auf André, der mich einsammelt. Ich bin zufrieden mit dem Aufstieg, und dem verpassten Schnappschuss mit dem Rad auf dem Rande des Vulkans trauere ich nicht lange hinterher.

Mit André bestreite ich ein paar Tage später auf der Insel Hawai'i dann den nächsten Aufstieg. Hier sind die Vulkane noch etwas jünger, aktiver, und höher. Unser Vorhaben ist der Aufstieg auf den Mauna Loa, den etwas niedrigeren der beiden 4.000er auf Big Island.


Wir bestücken spät abends den SUV mit Bergausrüstung und Bettdecken und fahren über die Sattelstraße zwischen den beiden Bergen zu dem kleinen Sträßlein, das sich über Lavageröll zum Wetterobservatorium auf 3.300 Meter Höhe am Hang des Mauna Loa befindet. Die Nacht verbringen wir im überaus geräumigen Chevrolet Suburban unter einem nie gesehenen Sternenhimmel.

Mit der Morgendämmerung steigen wir aus und ziehen die Wanderschuhe an. Vom ersten Meter an zieht sich ein kaum sichtbarer Wanderweg über Schotter und Geroll nach oben. Der Gipfel ist nicht zu sehen---der Berg ist einfach zu flach. Die Wanderung ist ein Erlebnis, auch wenn weit und breit nichts als Lavaschotter zu sehen ist. Oben stehen wir dann unter brennender Sonne, im aufziehenden Wind, am Rand des Kraters. Mein erster 4.000er.

Die Krönung wäre natürlich eine Fahrt mit dem Rad auf den 4.205 Meter hohen Gipfel des Mauna Kea. Dort wurde tatsächlich eine Straße bis auf den Gipfel gebaut, um die Zufahrt zu den Observatorien zu ermöglichen. Allerdings ist sie auf den obersten 1.400 Höhenmetern nicht asphaltiert und sehr steil. In Kombination mit der geringen Höhenluft strahlt diese Besteigung mit dem Rad einen sehr großen Reiz aus. Werde ich noch einmal nach Hawai'i zurückkehren?