Freitag, 22. Mai 2015

Löwenzahn-Brevet

Auch an diesem Brevet-Samstag war der Himmel über Freiburg zum Start der 400-Kilometer-Tour zum Bodensee von gewohntem Grau. Nicht nur grau, sondern dunkelgrau, beinahe bedrohlich schwarz waberten die Wolken dort oben. Im Dreisamtal begrüßte die unaufhaltbaren Radfahrer freudenvoll der Schwarzwald. Von diesem ging ein Strahlen erzeugt von Millionen Löwenzahnblumen aus, das den grauen Himmel durchleuchtete.

Dieses Land der Löwenzahnblüten zu erreichen war ihr gemeinsamer Antrieb, und diesen Antrieb frohlockend und effizient in Bewegung umzusetzen ist das Ziel des Randonneurs. Jedoch stand ihnen der Schwarzwald dem Eintauchen in dieses verheißungsvolle Land im Weg. Über die Spirzenstraße hoch zum Thurner, das will erst einmal erarbeitet werden. Bei Jan lief es gut an diesem Morgen, und in seinem Flug bemerkte er erst viel zu spät, dass Stefan gar nicht mehr hinter ihm war, mit dem er gerne ein Stück zusammen gefahren wäre.

Über die schnelle Schwarzwaldhöhenstraße fuhren die Randonneure in ein ruhiges Seitental, das den Schwarzwald von seiner natürlichen, gewaltigen Seite zeigt. Um aus diesem Tal hinaus zu steigen, müssen sie eine alte, sehr ungleichmäßige Steilstraße hinauf, und sodann hatten sie den Schwarzwald auch schon bewältigt. Geradezu einfach war der Eintritt ins Land der Korbblütler, und die Abfahrt hinunter sollte sie mit solcher Euphorie überschütten, dass Jan sich in seinem jugendlichen Überschwang schon die Zieleinfahrt ausmalte.

Die 15 Kilometer lange Schussfahrt wurde von einem Haufen schneller Schweizer angeheizt, deren Feuer bei der ersten Kontrolle in Bräunlingen noch längst nicht erloschen war. Dort setzte Urban sich an die Spitze und zeigte ihnen, wie Fahrradfahren geht. Das war Jan zu viel, und nach einigen Hügeln ließ er den Zug davon fahren. Auf der Hochebene zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alb gedieh der Taraxacum schon ganz besonders. Nach kleineren steilen Anstiegen, beispielsweise nach Fürstenberg, folgte der zweite Teil der Schwarzwaldabfahrt über einen Schleichweg über die Schweizer Grenze und durch den Kanton Schaffhausen, hinunter zum Rheinfall. Zweite Kontrolle, ein Viertel der Strecke geschafft, den Schwarzwald überquert.

Dann rollte Jan alleine weiter, frohen Mutes und frohlockend angesichts des unerwartet aufdringlichen Frühlingswetters. Der abgeklungene graue Himmel schickte noch seine Nachwehen in Form von Westwind hinterher, der den Löwenzahl am Straßenrand verbog, den ersten verblühten Stängeln ihre Samen entriss, und Jan rheinaufwärts nach Konstanz trieb. Auf dem Weg dorthin traf er Friedrich, mit dem er zur dritten Kontrollstelle am Bodensee einlief.

Nach einer Portion Spaghetti in einer Bierbude, die keinen Stempel parat hatte, trafen sie auf Stefan, der also eine halbe Stunde länger bis hierher gebraucht hatte. Das ist keine Zeit auf solch einer Strecke. Als die drei sich im veganen Café Sol den dritten Stempel und einen Espresso abholten, machte Jan sich keinerlei Gedanken um Stefan, der zurück blieb um Mittag zu essen. Am nächsten Tag erfuhr Jan, dass Stefan nur noch 10 Kilometer weiter gefahren war, bis seine verschleppte Erkältung die Vernunft auf den Plan rief und ihn zum Aufhören überredete.

Nichts von Abbruchgedanken ahnend, fuhren Friedrich und Jan weiter in die lieblichen Hügel des Hegau. Trotz der allumgebenden Löwenzahnpracht hegten sie erste Zweifel an der harmlosen Anmutung dieser Bodenunebenheiten. Bei einem ausgewachsenen Gebirgspass weiß man ja, woran man ist. Man fährt ein oder zwei Stunden bergauf, dann geht es runter. Hier in den Hügeln geht es immer etwas hoch, dann etwas runter. Sie taten sich schwer, den Nettohöhengewinn einzuschätzen. Nun, das spielt auch keine Rolle, die Strecke muss abgeradelt werden.

Der landschaftliche Höhepunkt versteckte sich hinter einer der doch recht zahlreichen Straßensperrungen dieses Brevets. Dort war die Durchfahrt ausdrücklich auch für Radfahrer gesperrt, was Jan nicht von einer Umleitung überzeugen konnte. Friedrich fuhr nach einem kleinen Scherz ("Da vorne steht die Polizei!") hinter ihm her. Die Abfahrt durch das enge Tal gehörte nur ihnen, und der Grund der Sperrung war die hälftig von Regengüssen weggerissene Fahrbahn. Für ihre beiden Fahrräder gab es kein Hindernis

Nun ging es der Donau entgegen, und die letzten Hügel dorthin nahm Jan angesichts des bevorstehenden Abendessens mit Leichtigkeit. Friedrich kämpfte sich hinter ihm her. Am vierten Kontrollpunkt wartete das Hotel Beuron mit seiner Küche auf, und gemeinsam mit einem großen Haufen Mitstreiter ließen sie sich die Maultaschen schmecken. Bei diesem Brevet konnte Jan die fabelhaften Pausen richtig genießen, so dass er sich schon auf die Weiterfahrt freute.

In der Abendsonne erstrahlten die Kalkwände des Donautals, und mit ihnen die Löwenzahnblüten. Aus diesem Tal mussten die wackeren Radler hinaus, und so ging es in engen Serpentinen den Albrücken hinauf. Jan drehte sich beim klettern kaum um und merkte erst oben, dass Friedrich nicht mithalten konnte. Er schickte Jan und den Jungspund Daniel weiter, sie sollen nicht auf ihn warten.

Nach diesem Verlust beägute Jan seinen neuen Begleiter Daniel. Dessen Knie waren schon von leichtsinnigen Bergsprints geschunden, und die Strecke vor ihnen war doch noch so weit. Also ließen sie ihre Räder gemächlich durch das Bäratal gleiten, um am Talende die Schwäbische Alb zu überwinden. Die Serpentinenabfahrt hinunter von diesem Kalksteingebirge berauschte die beiden, und die Talfahrt durch Balingen war allzu schnell vorbei.

Die Dunkelheit legte sich gemächlich über die Löwenzahnwiesen, und die Nacht kroch die ach-so-niedlichen Albhügel empor. Nicht nur Daniel standen die Hügel im Weg, auch Jan suchte nun verzweifelt nach der Leichtigkeit, mit der er sie bei Tageslicht noch im Wiegetritt unter die Räder genommen hatte. Von eitel Sonnenschein war keine Spur mehr zu sehen, und die Alb zeigte sich von ihrer finsteren Seite. Aufgelockert wurde die Fahrt durch Samstagnacht-Ausgänger, so etwa in der Partystadt Sulz am Neckar, deren Tal wiederum hinab- und auf der anderen Seite hinaufgefahren wurde.

Freudenstadt, der fünfte und letzte Kontrollpunkt, schien so nah, doch war er so unerreichbar wie Kafkas Schloss. Die Hügel hatten jeden lieblichen Anschein verloren, und in der Dunkelheit war es weniger klar denn je, ob sie mit jedem Hügel der Bergfeste Freudenstadt näher kamen, oder ob sie dem Abgrund entgegen fuhren. Vor dem erklimmen eines jeden Hügels stand die Hoffnung, dass oben endlich Freudenstadt liege.

Wie bei jedem Brevet war es schließlich geschafft, und um Mitternacht war die Stadt erreicht. Dort sanken die beiden in die tiefen Sessel der Tankstelle und sehnten sich nach Erholung, aber auch nach der definitiven Ankunft. Also mussten sie sich noch einmal aufraffen und die müden Beine wecken. Dies gelang nicht so recht an den letzten Albhügeln, war dann auf der Schussfahrt das Wolfachtal hinab vorerst nicht mehr nötig. Diese Abfahrt war ein Geschenk der blütenlosen Nacht. Sie wollte gar nicht enden, und Jan konnte nicht glauben, dass 600 Meter Höhenverlust eine solche Rolleinlage gewähren konnten.

Auch diese Abfahrt hatte ein Ende, und so kurz vor dem nahenden Freiburg legte der dunkle Schwarzwald noch ein Hindernis in den Weg. Büchereck klingt nach Märchenstunde, doch der einzige Wunsch der angeschlagenen Randonneure war die Ankunft und ein warmes Bett. Das 18%-Schild wurde noch belächelt und als Übertreibung abgetan, aber ein paar Meter höher schlug der Berg hart zu: die beiden stiegen ab und schoben. Ihre Beine wurden dadurch zwar nicht frischer, aber bald ließ die Steigung nach und es konnte wieder gekurbelt werden. So standen sie auf der letzten Passhöhe, mit der Gewissheit bis Freiburg kein solches Hindernis mehr anzutreffen. Mit einem äquivalenten 18%-Schild ging es im Sturzflug hinab.

Aber der Schwarzwald spie ihnen noch seinen kalten Hauch hinterher, der die beiden im Elztal frösteln ließ. Auch hier erfuhren sie eine lange währende Abfahrt, aber Jan mochte seine Beine kaum noch zum rotieren bringen. Ein kurzer Stopp in der Filiale der Volksband Oberwinden brachte nicht nur kurzzeitig Wärme, sondern weckte auch den Turboantrieb, der selbst Daniel noch überraschte. Dieser Antrieb hielt bis Freiburg, wo das Morgengrauen die verwegenen Radler begrüßte. Dort, am Wegesrand der Stadtgrenze, weckte die Sonne schon bald wieder die Löwenzahnblüten.

3 Kommentare:

  1. Hallo Jan. Danke für Deine Geschichte. Fühlte mich 100 Jahre zurückversetzt durch die Sprache. Danke fürs Mitnehmen. Gruss Jürgen

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  2. Hallo Ja,
    Danke für den tollen Bericht. Habe mich in alles reingefühlt.
    Nächstes Jahr bin ich wieder dabei.

    Viele Grüsse,
    Philip

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    1. Hallo Philip,

      zumindest kannst Du so ein wenig im Kopf mitfahren. Der 600er liegt auch hinter mir. Es war so heiß wie letztes Jahr. Und noch etwas knapper - Bericht folgt...

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