Montag, 27. Juli 2015

Knapp 600 Kilometer, und qualifiziert

Können schwere Erlebnisse auf dem Rad Traumata nach sich ziehen? Um solch eine Frage gar nicht erst aufkommen zu lassen, stelle ich mich dieses Jahr erneut meiner Härteprüfung, dem Tod in Vesoul. Von Freiburg aus geht es wieder in die tiefe Wildnis des Schweizer und Französischen Jura. Wie im Vorjahr sind Temperaturen deutlich über 30 Grad angekündigt. Piano lautet also die Devise.

Der Doubs unterhalb von La-Chaux-de-Fonds, Grenze zwischen Frankreich und Schweiz
Die Startprozedur hat sich eingespielt, ich kann nachts zuvor gut schlafen und bin beim Randonneursfrühstück gar nicht mehr aufgeregt. Ich freue mich, zumal ich mich ein paar Tage zuvor mit Matthias zu gemeinsamer Runde verabredet habe. Gemütlich quatschend satteln wir die Räder und reiten los.

Auch die Fahrt durch das morgendliche Freiburg ist so vertraut, der Anstieg über die Söldener Höhe kaum mehr wahrnehmbar, und die lange Partie am Rhein entlang ist in ihrer Eintönigkeit auch nicht störend. So kommen wir in die Hügel des Sundgau, in dessen Dörfern die Feuerwehr mit den Erdrutschen zu kämpfen hat, welche durch die Unwetter der letzten Nacht verursacht wurden. Unsere Räder sehen gleich aus wie nach einem Cross-Rennen. Dann geht es in die Schweiz und in die imposante Einfahrt nach Porrentruy. Mittagessen beim Coop, auch hier nichts Neues.

So viel Bekanntes, so viel Routine --- ist es da nicht geradezu einfach, einen 600er zu fahren? Dieser Gedanke kommt mir, aber ich verscheuche ihn eilig. Immerhin ist dies mein neunter Brevet und ich weiß allzu gut, dass jeder einzelne eine Prüfung für sich ist. Nun gut, aber bisher bin ich jeden Brevet auf einer anderen Strecke gefahren. Erst hier im tiefen Jura bin ich das zweite Mal auf einer bekannten Runde unterwegs.

Nach ausgiebiger Mittagspause fahren Matthias und ich nun über den wunderschönen Col de Montvoie in den Jura, genießen die rauschende Abfahrt und folgen dem Doubs. Die Kontrollfrage in Orgeans ist anders als im Vorjahr, und hier hat Urban auch eine klitzekleine Streckenänderung eingebaut, die zwei Kilometer gegen ein paar Prozent Steigung eintauscht. Wieder runter zum Doubs, wieder rein in die Schweiz, und hinein in den langen Anstieg nach La-Chaux-de-Fonds, diese wundersame Stadt aus einer anderen Welt.

Der Anstieg ist wie im Vorjahr unter der drückenden Hitze sehr anstrengend und zehrend. Dieses Jahr möchte ich aber nicht in Chaux-de-Fonds im McDonalds am Bahnhof rumhängen, deswegen gehen wir gleich in den nächsten Anstieg zum Col Vue des Alpes. So hängen wir eben dort oben im überteuerten Gästehaus rum, essen die teuersten und gleichzeitig schlechtesten Spaghetti meines Lebens und schauen den Einheimischen beim Mumienschieben bei seltsamer Schlagermusik zu. Immerhin sind wir am höchsten Punkt der Runde angelangt; von hier an geht es tendenziell bergab.

Bergab geht es auch für zwei Randonneure, die sich hier enorm teure Unterkunft im Bettenlager erkaufen und die Sache damit beenden. Und bergab geht es auch langsam mit meinen Gedanken. Nach diesem Hitzetag kann ich die Spaghetti nur mit zwei Radlern herunter würgen, und deren Alkohol verbreitet auch keinen Optimismus. Dann taucht auch noch Walter auf, den ich um diese Uhrzeit überhaupt nicht mehr hier erwartet hatte, und wenn selbst er so sehr kämpft --- wo soll das für mich hinführen? Aber Walter kämpft mehr mit den Nachwehen seiner Gastritis als mit dem Brevet, und so steigen auch Matthias und ich auf die Räder und rollen den Pass wieder herunter.

Es geht in die Nacht durch das Sibirien der Schweiz, das im Sommer doch erträglich ist. Nach solch einem anstrengenden Tag werde ich schnell müde und kann Matthias zu einer frühen Nachtpause überreden, als am Horizont die Gewitter los brechen. Wir sind noch nicht in Champagnole, dem geographischen Wendepunkt des Brevets.

Nach zweistündiger Dinier- und Schlafpause fahren wir weiter und knibbeln uns in Champagnole unsere Aufkleber vom Ortsschild ab. Der Morgen dämmert schon durch die nebelverhangenen Äcker und Wiesen, aber ich komme nicht auf Touren und schleiche dahin. Der erste offene Bäcker kann dem etwas entgegen wirken, aber auf flottes Fahren habe ich keine Lust. In Salins-les-Bains lesen wir Frank auf, der sich kurz darauf einen Platten einhandelt. Ist mir Recht, so geht es gemütlich weiter.

Auf dem Weg nach Gonsans wird uns klar, dass wir die dortige Kontrollstelle bei Kilometer 400 wohl nur ganz knapp vor Kontrollschluss erreichen werden. Frank und Matthias drücken auf die Tube, aber mir ist gerade alles gleichgültig. Vollkommen gleichgültig. Nach den schönen Gebirgspässen kommen hier nur noch blöde Hügel, die ich nicht mehr hoch drücken will und nur mühsam einen nach dem anderen erklimme. Paris-Brest besteht ja nur aus solchen Hügeln, und das soll Spaß machen? Schon fünf Hügel in Folge machen ja keinen Spaß. Ich will Gebirgspässe, Landschaften, Schluchten! Ich will hier weg, aber das Problem im Jura ist, dass man nicht weg kommt. Außer mit dem Auto, oder eben mit dem Rad. Mir bleibt nur das Rad. Mit diesen Gedanken komme ich zwei Minuten nach Kontrollschluss an der Boulangerie Artisanale an und hole mir meinen Stempel.

Nicht nur einen Stempel, sondern auch Croissants und Éclaires. Dann geht es mir wieder besser. Nun sind wir also am Zeitlimit. Das ist noch kein Problem, schließlich können wir schnell genug fahren, um die verbleibenden 200 Kilometer bis Freiburg in den nächsten dreizehneinhalb Stunden zu schaffen. Das Problem ist natürlich der Kopf, der den Körper dazu animieren muss, Rad zu fahren. Denn voran kommt man nur auf dem Rad; in diversen Kneipen, Dönerbuden und Restaurants lassen sich auch dreizehn Stunden recht schnell verplempern.

Ich schaffe das. Mit positiven Gedanken rolle ich Vesoul entgegen. Denn eines ist gewiss, in Vesoul möchte ich heute nicht sterben. Also komme ich guter Dinge unter sengender Sonne zur Mittagszeit dort an, hole mir meinen Stempel und will gleich weiter fahren. Just in dem Moment kommt Matthias an, und ich mache seine Pause gleich noch mit, dass wir gemeinsam weiter fahren können.

Wir nehmen Kurs auf die Vogesen, deren Ausläufer uns heute auf dem Weg nach Freiburg auch nicht mehr aufhalten werden. In Champagney schließt ein Jürg zu uns auf, als wir gerade einen Dönerladen betreten. Beim Abendessen können wir unsere Erlebnisse austauschen und starten anschließend in die letzten 100 Kilometer. Die lange Fahrt durch die Rheinebene auf Fessenheim zu, dort über den Rhein, und gegen halb elf sind wir an der Autobahnraststätte Bremgarten. Platter Reifen für Jürg. Wir haben es quasi geschafft, bis Freiburg sind es nur noch 25 Kilometer.

Doch als wir unsere Karten stempeln lassen und ins Freie treten, trommelt das dritte Gewitter des Wochenendes auf das Wellblechdach der Tankstelle. Es donnert heftig und die Blitze zucken aus allen Richtungen. Hier erfahre ich erstmals von Urbans Gnadenstempel: der Möglichkeit, bereits in Munzingen am Tuniberg, bei Kilometer 600, zu stempeln, sollte man die Zusatzstrecke bis Freiburg nicht mehr bewältigen können. Wir ziehen unsere Regenjacken an und fahren in das Unwetter. Rund herum sehen wir Wetterleuchten, über dem Rhein, den Feldern, am Kaiserstuhl, im Schwarzwald, im Breisgau. Kluge Ratschläge zu Kinderzeiten über Gewitter und Radfahren verdränge ich und sehe zu, dass ich mit den beiden schnell über die Dörfer flitze.

So kommen wir in Munzingen an, finden das Schloss Reinach und bitten um einen Stempel. Als der Portier die Uhrzeit einträgt wird mir erst klar, wie knapp es bis hierher war --- es ist 23:58 Uhr.

Nach Freiburg müssen wir natürlich trotzdem noch. Das Unwetter ist vorbei, und wir radeln über nasse Radwege in die Stadt.

Was für ein Ritt, was für ein emotionales Wechselbad. Nach 200, 300 und 400 Kilometern sind auch die 600 geschafft: ich bin qualifiziert. Um keine Zweifel mehr aufkommen zu lassen, finalisiere ich am nächsten Tag sofort meine Registrierung für Paris-Brest-Paris. Wir sehen uns am Start!

2 Kommentare:

  1. Toll zu lesen und ungeschönt geschrieben. Genauso läufts. Und viel Glück in Paris. Gruss Jürgen

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    1. Danke Jürgen, es ist immer ermutigend zu hören, dass andere die gleichen Erfahrungen machen.

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